Mazedonien: Volksentscheid der letzten Chance

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Wird Mazedonien zu Nord-Mazedonien? Ein Volksentscheid soll den langjährigen Namensstreit mit Griechenland beenden – und den Weg in die NATO und die EU ebnen. Die Gegner sind in der Minderheit – und setzen auf Boykott.

Von unserem Korrespondenten Thomas Roser, Kratovo

Unter dem hohen Bogen der altehrwürdigen Steinbrücke gurgelt leise das ausgetrocknete Rinnsal der Kratesvka Reka. Kopfschüttelnd spuckt ein braun gebrannter Maurer auf der Hauptstraße von Kratovo seine ausgekauten Kürbiskernschalen auf das Kopfsteinpflaster. „Wer wechselt schon seinen Namen? Niemand! Das haben die da oben sich ausgedacht“, sagt der mürrische Mann mit der Kelle. Mazedonien werde „untergehen“, sagt der Handwerker, bevor er einen weiteren Stein auf seine Mauer setzt. Nein, am Referendum werde er „sicherlich nicht“ teilnehmen: „Wir sind Mazedonier – und sonst nichts!“

Wird Mazedonien zu Nord-Mazedonien? Vor dem Volksentscheid am 30. September hat die Weltpolitik selbst die verschlafene Provinzstadt an den Ausläufern des Osogovo-Gebirges im Nordosten Mazedoniens ereilt. Wie eine Verheißung prangen Europas gelbe Sterne auf den blauen Stellwänden vor der weißen Leinwand in dem bis auf den letzten Platz besetzten Kinosaal. „Dies ist die letzte Chance für Mazedonien“, sagt auf der Empore erwartungsfroh ein weißhaariger Rentner: „Und ob wir sie nutzen, hängt nur von uns selbst ab.“

Die Umbenennung soll den seit 27 Jahre währenden Namensstreit mit Griechenland beenden – und dem Vielvölkerstaat den bisher von Athen blockierten Weg in die EU und NATO ebnen. Unter den Jüngeren sei „die große Mehrheit“ für den Namensdeal, beteuert der dunkelhaarige Automechaniker Robert. Wenn das „die Rettung“ sei, müsse man die Änderung des Landesnamens eben in Kauf nehmen: „Wir wollen europäisches Recht, ein europäisches Leben – und europäische Löhne. Damit die Leute sich nicht mehr einen bulgarischen Pass organisieren und auswandern müssen, wenn sie ein normales Leben führen wollen.“

Warnung vor Gewalt und Spannungen

Das Klicken der Kameras kündigt den hohen Gast aus der Hauptstadt an. „Zoki, Zoki“, skandieren seine Anhänger begeistert. Händeschüttelnd bahnt sich ihr Hoffnungsträger den Weg aufs Podium. Die Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt schwört Premier Zoran Zaev seine Zuhörer freisprechend auf den „bestmöglichen Kompromiss“ und die Aussöhnung mit Griechenland ein: „Es gibt keine Alternative. Schaut in die Augen eurer Kinder, sie verdienen eine Perspektive – und Zukunft: Stimmt für das europäische Mazedonien!“

90 Kilometer entfernt harrt Mite Andrevski schon seit sieben Monaten in seinem Protestzelt gegenüber dem Parlament in Skopje aus. Das „Finale des geistigen Genozids am mazedonischen Volk“ stehe bevor, erklärt verbittert der hagere Ökonom. Sollte der Deal mit Athen abgesegnet werden, werde es „kein Mutterland mehr geben“. Eindringlich warnt der Patriot vor „Spannungen und Gewalt“, falls die Regierung mit Hilfe der albanischen Minderheit die Umbenennung durchpeitschen sollte: „Sie können legal nicht auf die benötigte Mindestwahlbeteiligung von 50 Prozent kommen. Wenn sie das Referendum manipulieren, werden sie die ganze Region destabilisieren – und sich selbst das eigene Grab schaufeln.“

Doch bis auf einige Protestbanner der angeblich auch von russischen Sponsoren finanzierten „Ich boykottiere“-Bewegung sind die Gegner der Umbenennung in der Öffentlichkeit kaum präsent. Die nationalpopulistische VMRO-DMPNE wird seit ihrer Verbannung in die Opposition von heftigen Machtkämpfen geschüttelt. Ob aus Unschlüssigkeit, wegen des Drucks ihrer christdemokratischen Schwesterparteien im Westen oder wegen der Hoffnung, im letzten Moment doch noch einen Amnestie-Deal für die ins Visier der Justiz geratenen Ex-Würdenträger ihrer früheren Regierung auszuhandeln: Auf eine klare Wahl- oder Boykottempfehlung hat die größte Oppositionspartei verzichtet. Stattdessen ruft die VMRO ihre Anhänger auf, nach eigenem Gutdünken am Referendum teilzunehmen – oder nicht.

Offiziell sind 1,8 Millionen Mazedonier wahlberechtigt. Die Bevölkerung des von Emigration und rückläufigen Geburtenraten geprägten Landes wird jedoch allenfalls noch auf 1,5 Millionen Einwohner geschätzt. Doch da seit 2002 keine Volkszählung mehr durchgeführt worden ist, fällt die Säuberung der Wahllisten von längst verstorbenen oder ausgewanderten Wählerseelen schwer. Um auf eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent zu kommen, müssten schätzungsweise 65 bis 70 Prozent der Stimmberechtigten wählen gehen.

Parlament könnte Entscheidung treffen

Das Quorum von 50 Prozent werde bei dem Referendum vielleicht verfehlt, aber dennoch sei er auch wegen des großen internationalen Drucks „optimistisch“, dass der Deal „auf jeden Fall“ abgesegnet werde, sagt der albanische Verleger und Analyst Fejzi Hajdari. „Alles ist möglich“, zitiert er den Werbeslogan des lokalen Skopsko-Biers: „Eine große Mehrheit könnte der Regierung auch als Argument dienen, um mit dem Segen des Westens die Verfassungsänderung notfalls auch mit einfacher Parlamentsmehrheit zu beschließen.“

Still ragen die Kräne über den halb vollendeten Rohbauten am „Plostad Makadonija“. Das Großprojekt „Skopje 2014“ mit falschen Antike-Fassaden und überdimensionierten Monumenten antiker Helden hat die neue Regierung gestoppt. Was mit dessen Relikten passieren soll, ist genauso unsicher wie die Zukunft des Landes bei einem Scheitern des Namensdeals. „Schau, wie die unsere Stadt mit ihrem Kitsch verschandelt haben“, schimpft die Rentnerin Snezana auf die früheren VMRO-Machthaber. Ja, der neue Landesname sei „kein schöner“ Kompromiss: „Aber was hilft uns ein Name, wenn wir nichts zu essen haben. Wir können nicht ewig auf der Stelle stehen. Wenn nicht jetzt die Einigung, wann dann?“