„Ein historisches Ereignis für das Land und die ganze Region“ oder „Die wichtigste Wahl der Welt seit dem Fall der Berliner Mauer“ – mit stolzgeschwellter Brust konnten die Tunesier in den vergangenen Tagen Kommentare über ihren arabischen Frühling lesen. Viele von ihnen beteiligten sich am Sonntag aber dennoch mit gemischten Gefühlen am ersten freien Urnengang in der Geschichte ihres Landes. Die Diskussion über die populäre islamistische Ennahda-Bewegung von Rachid Ghannouchi spaltet das Volk in scheinbar unversöhnliche Lager. Hinzu kommen erhebliche soziale Probleme. In manchen Regionen liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 40 Prozent.
Die Freude über den Sturz von Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali wird mittlerweile von viel Frust überlagert. „Nichts ist besser geworden, seit er weg ist“, erzählten Wähler aus Sidi Bouzid am Wahlsonntag den zahlreich angereisten Journalisten aus aller Welt. In der kargen tunesischen Kleinstadt hatte sich am 17. Dezember des vergangenen Jahres der junge Gemüsehändler Mohammed Bouazizi mit Benzin übergossen und angezündet.
Märtyrer
Der 26-Jährige ahnte damals nicht, dass er mit seiner Verzweiflungstat zum Märtyrer und Helden des arabischen Frühlings werden würde. Hunderttausende Tunesier gingen in den darauffolgenden Wochen auf die Straßen und vertrieben letztlich Ben Ali und seinen Clan ins saudi-arabische Exil. Bouazizi hatte eigentlich nur gegen die Behörden protestieren wollen, die ihm nicht erlaubten, auf der Straße seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
„Dank meines Bruders kann Tunesien heute diesen Tag erleben“, sagte Salem Bouazizi (30) am Sonntag im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. „Ich hoffe, dass der demokratische Übergang gelingt – auch in anderen arabischen Ländern.“ Niemand könne heute mehr über das angebliche Duckmäusertum der Tunesier spotten. Der junge Mann aus Sfax hat am Sonntag die Liste von Ghannouchis Partei angekreuzt. „Ich wähle Ennahdha, weil es die Partei ist, die die islamischen Werte verteidigt“, kommentiert er.
Extremismus
In der größtenteils ebenfalls gläubigen, aber westlich orientierten Mittel- und Oberschicht lösen Äußerungen wie diese großes Unbehagen aus. Vor allem Frauen fürchten, dass die Ennahdha ihren moderaten islamistischen Kurs nicht beibehält und sich extremistischen Strömungen beugt. Vor allem an der Parteibasis gibt es Gruppen, die von der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht viel halten und auch neue Zensurregeln für die Medien befürworten.
Als streng gläubige Salafisten jüngst gewaltsam gegen die Ausstrahlung des ihrer Meinung nach gotteslästerlichen Animationsfilms „Persepolis“ demonstrierten, verurteilten Ennahdha-Führer zwar den „nicht friedlichen Charakter“ der Proteste. In der Sache gaben sie den Salafisten aber recht.
Wahlen
„Ich nehme zum ersten Mal in meinem Leben an einer Wahl teil, aber ich habe Angst, dass die Ennahdha zu stark wird“, kommentierte Sonia, eine 38 Jahre alte Universitätsdozentin, am Sonntag in Tunis. Sie hoffe auf ein gutes Ergebnis für die linksgerichtete PDP von Ahmed Neji Chebbi.
Wie tief die Gräben sind, zeigte sich bei der Stimmabgabe von Ennahdha-Führer Ghannouchi in El Menzah. Als eine seiner Schleier tragenden Begleiterinnen nach der Wahl Jubelschreie von sich gab, reagierten Dutzende andere Wähler mit wütenden Protestrufen. „Ghannouchi hau‘ ab“-Rufe hallten durch die Straße. „Das ist nicht hinnehmbar und undemokratisch“, kritisierte Ghannouchis ebenfalls anwesende Tochter Soumaya.
Regierung
Wer nach den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung die politische Führung im Land übernimmt, wird sich voraussichtlich erst in den kommenden Tagen und Wochen entscheiden. Die Ennahdha gilt zwar als stärkste Einzelpartei des Landes. Mangels starker Verbündeter könnte sie sich aber mit einer Nebenrolle zufrieden geben müssen.
De Maart


















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