Umstrittener Notausschalter

Umstrittener Notausschalter
(dpa)

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Angesichts zunehmenden Populismus hat das Parlament zu einer ungewöhnlichen Maßnahme gegriffen: Sein Präsident darf Liveübertragungen von Debatten unterbrechen, wenn Redebeiträge gegen bestimmte Regeln verstoßen. Der Schritt ist nicht unumstritten.

In einem Jahr mit potenziell weichenstellenden Wahlen in mehreren EU-Staaten geht das Europäische Parlament gegen Rassismus und Hassreden in seinen eigenen Reihen vor. Die Abgeordneten statteten den Parlamentspräsidenten mit der Vollmacht aus, im Fall von rassistischen Reden oder Handlungen bei der Liveübertragung einer Debatte den Stecker zu ziehen – ein bislang beispielloser Schritt. Zudem darf der Präsident beleidigendes Video- oder Audiomaterial aus dem System entfernen.

Das Problem dabei: Was als beleidigend gilt, ist nicht klar umrissen. Manche Abgeordnete befürchten Manipulationen, andere Zensur. Der Schritt untergrabe die Verlässlichkeit der Parlamentsarchive in einer Zeit, in der der Verdacht von „Fake News“ und Manipulation die Glaubwürdigkeit von Medien und Politikern bedrohe, sagt Tom Weingärtner, Präsident der Internationalen Pressevereinigung (IPA) mit Sitz in Brüssel.

Angst vor Rechts

Seit dem Brexit-Votum in Großbritannien wächst unter den etablierten Parteien die Sorge über die zunehmende Popularität rechtsgerichteter Politiker wie Geert Wilders in den Niederlanden und Marine Le Pen in Frankreich. Le Pen, die Kandidatin der rechtsextremen Front National bei der Präsidentenwahl im April und Mai, hat im Fall eines Siegs einen EU-Austritt Frankreichs angekündigt.

Im EU-Parlament, das 2019 neu gewählt wird, halten viele ein Vorgehen gegen Hassreden für überfällig und fordern harte Strafen. Denn in den vergangenen Jahren seien Abgeordnete zunehmend zu weit gegangen. Es gebe eine wachsende Zahl von Politikern, „die Dinge sagen, die über die Grenzen normaler parlamentarischer Diskussion und Debatte hinausgehen“, sagt der britische EU-Parlamentarier Richard Corbett, der sich für die neue Regelung einsetzte. Er befürchte, dass dies gezielt als Mittel eingesetzt und das Parlament als „fantastische Plattform“ dafür gesehen werden könnte. Was, wenn Abgeordnete sagten: „Das läuft im Live-Stream. Es kann aufgenommen und wiederholt werden. Lasst es uns für etwas Lärmenderes, Spektakuläreres nutzen“, fragt Corbett.

Nicht öffentlich

Regel 165 des Parlaments gestattet dem Präsidenten nun, Liveübertragungen „im Fall diffamierender, rassistischer und fremdenfeindlicher Sprache oder Verhaltens“ eines Abgeordneten zu unterbrechen. Die Höchststrafe soll rund 9000 Euro betragen. Inkriminiertes Material könnte „aus der audiovisuellen Aufzeichnung des Sitzungsprotokolls gelöscht“ werden – Bürger würden demnach nie davon erfahren, sofern nicht Reporter zugegen waren und darüber berichten.

IPA-Präsident Weingärtner sagt, die Pressevereinigung sei dabei nicht zu Rate gezogen worden. Die neue Regelung wurde auch nicht vom Parlament veröffentlicht, die spanische Zeitung „La Vanguardia“ berichtete zuerst darüber.
Ein von der Nachrichtenagentur AP eingesehener technischer Hinweis sieht vor, dass die Videoübertragung manuell unterbrochen wird. Ein Videoband in vier Sprachen soll während des Blackouts als amtliche Aufzeichnung weiter laufen. Nach einem effektiveren und dauerhafteren System wird gesucht.

Angst vor Missbrauch

Technisch ist auch eine um mehrere Sekunden zeitverzögerte Ausstrahlung möglich. Sie könnte gestoppt werden, bevor beanstandetes Material gesendet wird. Doch das System ist unpraktisch: Die Abgeordneten dürfen ihre Reden in jeder der 24 offiziellen EU-Sprachen halten. Beleidigende Äußerungen könnten dann bereits gefallen sein, bevor Parlamentspräsident Antonio Tajani eine Chance hat, den Abschaltknopf zu drücken.

Und es könnte zu Missverständnissen und sogar einem Missbrauch der Regel kommen. Während einer Debatte im Dezember äußerte Gerolf Annemans von der belgisch-flämischen Unabhängigkeitspartei Vlaams Belang die Sorge, dass die Regel „von denen missbraucht werden kann, die hysterisch auf Dinge reagieren, die sie als rassistisch, fremdenfeindlich einstufen, während Leute lediglich politisch unkorrekte Ansichten äußern“.

Recht auf Meinung

Sogar jene, die den Schritt mit in die Wege geleitet haben, räumen ein, dass es ein sensibles Thema sei. Der deutsche Abgeordnete Helmut Scholz von den Linken sagt, die EU-Parlamentarier seien gewählt und müssten ihre Meinung darüber äußern können, wie Europa funktionieren soll. Dieses Recht könne nicht begrenzt oder verwehrt werden, sagt Scholz. Auch er sorgt sich über Fake News – solche, die aus selektiven Debattenauszügen entstehen könnten. Es sei eine Sache, wenn man die gesamte Debatte verfolge, aber eine andere, wenn bestimmte Medien einzelne Sätze daraus auswählten. Dies könne das Thema verfälschen. Es müsse deshalb eine Möglichkeit geben, beispielsweise gegen Nazi-Parolen oder rassistische Obszönitäten vorzugehen, um die Verbreitung solcher Slogans und Ideen zu stoppen, fordert Scholz.