Unterwegs in die erste Liga

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Luxemburgs Psychiatrie befindet sich auf dem Weg der Besserung. Zu dieser Schlussfolgerung kommt der Schweizer Experte Dr. Wulf Rössler. Mitte der 1990er Jahre sah die Diagnose noch ganz anders aus./ Léon Marx

Die erste Analyse der luxemburgischen Psychiatrie im Jahr 1993, damals noch durch Prof. Haefner, war geradezu vernichtend ausgefallen. Seither wird eifrig reformiert. Vor allem das CHNP (Centre hospitalier neuro-psychiatrique) in Ettelbrück wurde von Grund auf umgebaut.
Nach einem Zwischenbericht von 2005 hatte Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo das Tempo noch einmal beschleunigt, nachdem der Reformprozess ins Stocken geraten war. Heute habe sich Luxemburg in Sachen Psychiatrie definitiv aus der internationalen Außenseiterrolle befreit, freut sich der Minister über den neuesten Bericht von Dr. Rössler.
Tatsächlich stellt der Zürcher Experte Luxemburg überwiegend gute Noten aus. Auch wenn er anmerkt, dass der Reformprozess noch keineswegs abgeschlossen sei. Vor allem die Akutbetreuung durch vier regionalen Allgemeinkrankenhäuser (Kirchberg, CHL, Esch/Alzette, Hôpital St-Louis Ettelbrück) sei ein riesiger Schritt nach vorne gegenüber der früheren Betreuung von akuten Fällen durch das CHNP, betont Rössler.

Gute bis sehr gute Ausstattung

 Justizpatienten

 Die Flucht von Gefangenen, die in eine Psychiatrie eingewiesen wurden,
werde in der Öffentlichkeit zu aufgeregt diskutiert, findet Dr. Rössler. Solche Zwischenfälle würden ein schlechtes Licht auf die Psychiatrie als solche werfen. Rössler empfiehlt den Aufbau eines neuen, eigenständigen Instituts zur Behandlung von Strafgefangenen mit psychiatrischen Problemen. Ein Vorschlag, den der Gesundheitsminister gestern positiv aufnahm.

Die Ausstattung der vier Fachabteilungen sei „gut bis sehr gut“, lobt Rössler. Auch die Zahl der verfügbaren Akutbetten, die 2005 noch ziemlich knapp bemessen war, habe sich stabilisiert und werde sich nach der Eröffnung einer fünften Fachabteilung in der „Clinique Ste-Thérèse“ normalisieren.
Die Dauer der stationären Aufnahmen hat sich erfreulicherweise deutlich verkürzt. Allerdings, so Rössler, liege „die Schwelle für stationäre Aufnahmen noch ziemlich niedrig“. Rössler glaubt auch, dass Patienten zu früh zu einer stationären Behandlung an das CHNP weitergereicht werden“. Vor allem schwierige Fälle würden zu schnell übergeben. Das Image des CHNP habe sich durch die Dezentralisierung der Akutpsychiatrie insgesamt deutlich verbessert, so Rössler. Das neue Bild sei allerdings noch brüchig.
Problematisch ist in den Augen von Dr. Wulf Rössler nach wie vor die berufliche und gesellschaftliche Rehabilitation von Langzeitpatienten. Derzeit sind deren 60 im CHNP untergebracht. Die therapeutischen Werkstätten würden zwar ein vielfältiges Angebot bieten, es mangele aber an konkreten Ansätzen zur Integration. Trotz erheblicher Anstrengungen fehlt es laut Rössler immer noch an 150 bis 200 Plätzen für geschütztes Wohnen. Für den Experten ist klar, dass die Strukturen in der Fläche gesucht werden müssen. Die Belastungsgrenze der Einwohnerschaft in Ettelbrück sei erreicht, befindet er.
Die Schaffung von zusätzlichen Kapazitäten in diesem Bereich sei dringend notwendig, da die Konsequenzen davon – überlange stationäre Aufenthalte in den Fachabteilungen – kontraproduktiv seien. Schlimmstenfalls finden sich diese Personen sogar in Obdachloseneinrichtungen wieder. Eine positive Entwicklung sieht Rössler auch im Bereich der Zwangseinweisungen in die Psychiatrie. 2005 machten diese fast die Hälfte der insgesamt 1.200 Einweisungen aus. „Die Rahmenbedingungen für Zwangseinweisungen entsprachen damals nicht den EU-Standards.“ Das habe sich inzwischen gewandelt, auch wenn das abgeänderte Gesetz sich noch in der legislativen Prozedur befinde.
Leider habe der Staatsrat ein für ihn nicht erkennbares Haar in der Suppe gefunden, klagt Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo. Die Forderung des Staatsrats, neben der Einweisung auch die Entlassung aus der Psychiatrie an einen Richterentscheid zu koppeln, stehe im Widerspruch zum aktuellen medizinischen Stand.
Lobende Worte findet Rössler für die Reform bzw. den Aufbau einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Luxemburg. Gegenüber 2005 habe sich sehr viel getan. Im CHL und im Klinikum Kirchberg werde „gute Arbeit geleistet“. So können heute fast alle Kinder und Jugendlichen mit psychischen Problemen in Luxemburg behandelt werden. Noch 2005 mussten viele stationäre Behandlungen im Ausland durchgeführt werden.
Insgesamt habe Luxemburg die Chance gehabt, die Reform seiner Psychiatrie in einer Zeit durchführen zu können, „in der viel Geld vorhanden war“, findet Rössler. Zwei Punkte blieben in seinen Augen aber noch zu behandeln: die Schaffung einer psychiatrischen Tagesklinik am CHL sowie im Norden, am Krankenhaus Wiltz, und eine strengere Bündelung der Kompetenzen in den spezifischen Bereichen Drogen- und Alkoholprobleme an den Standorten Manternach und Useldingen.
Mit Blick in die Zukunft sei es nach der weitgehend abgeschlossenen Reform jetzt auch an der Zeit, sich Gedanken über die Qualitätssicherung zu machen, betont Rössler. Er fordert dazu die Schaffung eines eigenständigen „Reformmanagers“.
Laut Weltgesundheitsorganisation drohen psychiatrische Probleme übrigens in den nächsten Jahren zum zweitgrößten Ausgabenposten für die nationalen Gesundheitssysteme zu werden.