Als der Gerichtsvollzieher wegen einer Zwangsräumung kommt, stürzt sich eine 54-Jährige im Treppenhaus in die Tiefe. Doch erst danach offenbart sich das ganze Ausmaß des Dramas: Die Frau hat ihre geistig behinderte Tochter nach ersten Erkenntnissen jahrelang eingesperrt.
Es ist nicht die beste Wohngegend in Rosenheim, doch die Häuser am nördlichen Stadtrand sind gepflegt, wurden erst vor wenigen Jahren modernisiert. Zwischen zwei Wohnblöcken liegt ein kleineres, zweistöckiges Acht-Parteien-Haus. In einer der beiden Dachgeschosswohnungen dort hat die Polizei am Dienstagvormittag eher zufällig eine schreckliche Entdeckung gemacht: Eine Mutter hat ihre geistig behinderte Tochter jahrelang in völlig verwahrlostem Zustand in einem kleinen Zimmer eingesperrt.
„Wie konnte ich das wissen“, sagt die Nachbarin der 54-Jährigen, die in der Mansardenwohnung nebenan lebt. „Sie wollte sich ja nicht helfen lassen.“ Vor allem nachts habe die Tochter öfter geschrien und gegen die Wände der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung getreten, „aber keiner hat geöffnet, wenn ich geläutet habe“.
Seit die heute 26-Jährige vor etwa fünf Jahren eine Schule für geistig Behinderte verlassen habe, sei sie Tag und Nacht in der Wohnung gewesen, schildert die Nachbarin sichtlich erschüttert. Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. „Nur einmal im letzten Jahr durfte (die 26-Jährige) kurz raus. Wenn man sie gesehen hat, hätte man nicht geglaubt, dass etwas nicht in Ordnung ist.“
Zwangsräumung angeordnet
Neben der 54-Jährigen und deren Tochter lebt in der Wohnung ein weiterer Sohn. Der etwa 15-Jährige besucht ein Gymnasium, wie die Nachbarin sagt. Angeblich war ein Umzug in eine größere Wohnung geplant, „damit (er) ein eigenes Zimmer zum Hausaufgabenmachen hat“. Der Vater der 26-Jährigen soll bereits gestorben sein, sagt die Nachbarin, der Jugendliche habe einen anderen Vater.
Anscheinend konnte die Mutter nicht mehr die Miete für ihre kleine Wohnung zahlen. Als am Dienstag um kurz vor 10.00 Uhr der Gerichtsvollzieher an der Haustür läutet und eine behördlich angeordnete Zwangsräumung vollziehen will, springt die 54-Jährige vom Treppenhaus im zweiten Stock in die Tiefe. Polizeisprecher Stefan Sonntag vermutet, dass sich die Frau in einer für sie ausweglosen Situation befand und umbringen wollte. Schwer verletzt wird sie in ein Krankenhaus gebracht. „Sie ist in einem kritischen Zustand, aber nicht in Lebensgefahr“, sagt Sonntag. Vernehmungsfähig sei sie vorerst nicht.
Psychischer Ausnahmezustand
Als Polizisten die Wohnung betreten, finden sie völlig verwahrloste Räume vor. Ein Zimmer ist abgesperrt. Sie brechen die Tür auf und finden die junge Frau „in psychischem Ausnahmezustand“, wie Sonntag es nennt. „Sie war auf den ersten Blick verwahrlost und nicht auf dem geistigen Stand einer 26-Jährigen. Auch das Zimmer war in einem sehr unhygienischen Zustand.“ Womöglich durfte die junge Frau nicht einmal auf die Toilette gehen. Sie wird schließlich in eine Nervenklinik gebracht.
Jetzt, da die möglicherweise jahrelange Freiheitsentziehung der jungen Frau aufgeflogen ist, macht sich die Nachbarin Gedanken, ob sie hätte einschreiten sollen. „Ich wollte schon etwas melden, aber dann habe ich mir gedacht, das Kind hat doch eine Mutter und einen Bruder.“
Die Polizei steht erst am Anfang ihrer Ermittlungen. Sie will nicht sagen, ob womöglich ein behördliches Versagen vorliegt. Die 26-Jährige wird der Polizei bei der Aufklärung des Falles kaum helfen können, wie Sonntag meint: „Eine Kommunikation mir ihr ist sehr, sehr schwierig.“
De Maart

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