Sigmar Gabriel ist bekannt dafür, dass er nicht immer stromlinienförmig durchs Leben gleitet. Der SPD-Chef eckt in aller Regelmäßigkeit an, hält mit Launen nicht hinter dem Berg, teilt auch mal kräftig aus. Nun macht der Vizekanzler mit einer Geste der besonderen Art von sich reden: einem „Stinkefinger“. Schadet ihm das – oder kann es ihm sogar nützen?
Freitag in Salzgitter in Niedersachsen: Gabriel ist auf dem Weg zu einer Wahlkampfveranstaltung im Ratskeller. Bei einem kurzen Termin im Rosengarten um die Ecke taucht plötzlich ein Trupp vermummter rechter Demonstranten mit schwarz-rot-goldenen Masken auf. Die beschimpfen Gabriel als „Volksverräter“ und grölen: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Gabriel schaut einigermaßen belustigt, schenkt dem Auflauf ein müdes Lächeln und winkt ab. Zum Schluss zieht er die rechte Hand aus der Hosentasche, zeigt den Pöblern den ausgestreckten Mittelfinger und dreht sich weg. Kalte Schulter.
Die beiden Seiten
Erst am Dienstag taucht ein Video von dem Vorfall im Internet auf. Die „Jungen Nationaldemokraten“ Braunschweig – die Jugendorganisation der rechtsextremen NPD -, die offenbar hinter der Aktion stecken, stellen einen Clip von der Pöbelei ins Netz. Das verbreitet sich aber erst richtig, als die Gruppe „Antifa Kampfausbildung e.V.“ es auf ihrer Facebook-Seite postet. Innerhalb kürzester Zeit wird der Film Zehntausende Male angeklickt und eifrig kommentiert. Selbst jene, die mit Gabriels Politik sonst nicht viel anfangen können, loben ihn auf der Antifa-Seite: „Macht ihn glatt wieder wählbar“, steht da, „vielleicht das erste Mal, dass mir der Typ sympathisch ist“. Oder: „Ein Beweis dafür, dass Siggi auch nur ein Mensch ist“.
Auf der Seite der Rechten fallen die Kommentare etwas anders aus. Gabriel ist zu einem Feindbild von Rechtsextremen geworden. In der Asyldebatte hat sich der SPD-Chef mit harten Worten hervorgetan. Im vergangenen Sommer besuchte Gabriel etwa eine Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau, wo es kurz zuvor zu Ausschreitungen gegen Asylbewerber gekommen war. Gabriel nannte die Verantwortlichen „Pack“. Danach bekam die SPD-Zentrale massenhaft rassistische Hassmails, beleidigende Anrufe und Drohungen.
Gabriels Nazi-Vater
Und: Gabriel erzählt immer wieder öffentlich von seinem Nazi-Vater. Erst vor ein paar Tagen sprach er auf einer Sommerreise durch Mecklenburg-Vorpommern, in der NPD-Hochburg Lübtheen, im Nieselregen über den Kampf gegen Rechts und bemühte seine Familiengeschichte. „Ich weiß, wovon ich rede“, sagte Gabriel da. Sein Vater sei „bis zum letzten Atemzug ein überzeugter Nationalsozialist“ gewesen.
Auch die rechten Störer in Salzgitter nahmen darauf Bezug. In dem Video ist zu hören, wie einer von ihnen Gabriel zuruft: „Mensch, dein Vater hat sein Land geliebt. Und was tust du? Du zerstörst es.“
Gabriel streut derzeit überhaupt auffallend viel Persönliches in seine Auftritte ein, erzählt bei jeder passenden oder auch weniger passenden Gelegenheit von seiner kleinen Tochter, seiner Mutter, gab kürzlich erstmals ein Doppel-Interview mit seiner Frau. Manch einer wertet das als Zeichen dafür, dass er sich nun doch entschieden hat, den Kanzlerkandidaten für seine Partei zu geben.
Darf der das?
Aber darf ein Kanzlerkandidat das – den Stinkefinger zeigen? Peer Steinbrück hat damit nicht so gute Erfahrungen gemacht. Der damalige SPD-Spitzenmann grüßte 2013 – kurz vor der Bundestagswahl – mit einem Stinkefinger vom Titel des Magazins der Süddeutschen Zeitung. Das Bild entstand in einem Ohne-Worte-Interview, in dem Prominente nur mit Gestik und Mimik antworten dürfen. Steinbrück wurde nach fiesen Spitznamen gefragt und entschied sich als Antwort für den ausgestreckten Mittelfinger plus genervtem Gesichtsausdruck.
Ja, es war lustig gemeint, ironisch. Trotzdem hagelte es Kritik, etwa vom damaligen FDP-Chef Philipp Rösler. Der befand: „Die Geste verbietet sich als Kanzlerkandidat. So etwas geht nicht.“
Bei der Wahl lief es damals schlecht für Steinbrück. Der Stinkefinger dürfte zumindest nicht ganz hilfreich gewesen sein.
„Das schadet ihm nicht“
Auch andere haben sich mit der Geste ordentlich Ärger eingehandelt: der frühere griechische Finanzminister Gianis Varoufakis etwa. Oder der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD), der im Jahr 2000 bei der Weltausstellung Expo Jugendlichen den Mittelfinger zeigte. Die hatten ihn gefragt: „Wer bist’n du?“.
Aber bei Gabriel ist die Lage eine andere. Er hat nicht Lesern, Jugendlichen den Mittelfinger hingestreckt, sondern Rechten. Das zu kritisieren, ist schwerer. SPD-Leute verkaufen seine Gegenwehr gegen Fremdenfeinde ohnehin als großes Plus, preisen seine Authentizität bei diesem Thema, seine menschliche Seite. Ein Stinkefinger gegen Neonazis fügt sich da aus ihrer Sicht irgendwie ein. „Das schadet ihm definitiv nicht“, meinen SPD-Kreise.
Bei Merkel undenkbar
Die SPD-Zentrale müht sich, der Sache einen möglichst menschlichen Anstrich zu geben. In einer Antwortmail von dort auf Nachfragen von Bürgern heißt es, ja, auch Gabriel halte die Geste „nicht für eine angemessene Form der Alltagskommunikation“. Aber mit den brüllenden Neonazis sei die nun mal nicht möglich gewesen. „Auch Minister und SPD-Vorsitzende sind nur Menschen.“
Und: Angesichts der massiven Beleidigungen, auch von Gabriels Familie, sei die Geste „schlicht eine emotionale Reaktion, zu der Sigmar Gabriel auch steht“. Allerdings ist die Frage, ob der Studienrat in Bottrop oder die Rentnerin in Bielefeld ähnlich euphorisch auf eine solche Geste reagieren wie Antifa-Leute – oder ob sie es eher als Zeichen sehen, dass sich Gabriel einfach nicht im Griff hat. Würde Kanzlerin Angela Merkel (CDU) so etwas passieren? Undenkbar.
De Maart
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