„Du möchtest alles kontrollieren“

„Du möchtest alles kontrollieren“
(dpa)

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Essstörungen sind ein großes Leiden der modernen Gesellschaft. Magersucht und Bulimie können ohne Behandlung sogar tödlich verlaufen. Jeanne, eine Studentin, erzählt von ihren Erfahrungen.

Das Tageblatt sprach mit Jeanne, einer 20-jährigen Studentin aus Luxemburg, die selber magersüchtig ist und den Weg zurück aus der Sucht beschreitet.

Wie kam es dazu, dass du magersüchtig wurdest?

Der Auslöser war, glaube ich, dass ich eine Allergie auf verschiedene Lebensmittel entwickelt habe und dann angefangen habe, sehr aufzupassen, wo was drin ist und was ich esse. Ich habe nur noch darauf geachtet, was ich esse, was vielleicht auch nicht gut ist für mich. Das wurde zum Teufelskreis.

Deine Freunde und deine Familie haben es auch mitbekommen, wie du immer weiter abgenommen hast. Wie waren ihre Reaktionen?

Das Ganze hat eigentlich begonnen, als ich 17 war. Ich kann mich erinnern, dass wir mit der Schule zum Arzt sind und sie dort schon gesagt haben, dass ich sechs Kilo abgenommen hatte. Das war erstmal nicht so schlimm, aber es war nicht normal. Zu Hause habe ich das aber nicht erzählt. Da hat noch keiner was gesagt, aber viele haben sich schon Sorgen gemacht. Und auch wenn jemand was gesagt hat, dann bin ich schnell wütend geworden, weil ich es selber nicht eingesehen habe. Hat mir jemand gesagt, ich wäre zu dünn oder hätte wieder abgenommen, habe ich abwehrend reagiert, habe gesagt: Das stimmt doch nicht, ist gar nicht wahr. Viele in meinem Umfeld haben sich aber auch gar nicht getraut, irgendwas zu sagen, weil man nichts Falsches sagen möchte und ich so abweisend reagiert habe.

Was war das Schlimmste, das du deswegen erlebt hast?

Es war ganz zum Schluss, als es einfach zu Hause viel Streit wegen meiner Magersucht gab. Mein Vater wurde auf einmal etwas lauter, was er sonst nie tut, und ich konnte nur noch weinen und wollte weglaufen. Ich fühlte mich total unverstanden und wollte einfach nicht reden. Ich merkte: Sie machen sich Sorgen, aber sie verstehen es einfach nicht.

Und in der Schule?

Also von meinen Klassenkameraden hat keiner was gesagt. Manche Lehrer fragten mal nach oder machten Kommentare. Aber es ging eher so: Ach du isst ja noch ein wenig, also kann es nicht so schlimm sein.

Wie hättest du dir die Reaktionen denn gewünscht?

Es konnte keiner richtig darauf reagieren. Weil einfach alles falsch war. Wenn du von Außenstehenden, die du nicht kennst und die professionell auf dem Gebiet tätig sind, gesagt bekommst, es ist gefährlich, hört man eher drauf. Denn dein Umfeld steht dir zu nah. Keiner konnte dort die richtigen Worte finden.

Kommt man alleine aus der Magersucht raus?

Nein, auf keinen Fall. Das funktioniert nicht. Man braucht Hilfe, professionelle Hilfe.

Im Internet in verschiedenen Foren wird Magersucht mit Alkoholismus verglichen. Siehst du das auch so?

Ja, denn es ist ein Suchtverhalten. Es heißt ja nicht umsonst Magersucht. Eine Sucht, nicht unbedingt dünn zu sein, sondern nach Perfektion, nach Kontrolle. Du möchtest alles kontrollieren. Und es ist für mich immer noch schwer, diese Kontrolle abzugeben und einfach mal spontan zu sein.

Wie war es für dich, wenn du normal am Leben teilnehmen wolltest? Zum Beispiel einkaufen gehen?

Also ich hab es nicht so schlimm gesehen im Spiegel, aber ich habe gemerkt, wenn ich draußen war, wie andere geredet haben, vor deinen Augen. Teilweise habe ich sogar gehört, was gesagt wurde und wie geguckt wurde. Und das tut weh, das war schlimm. Du merkst einfach, wie andere sich Fragen stellen: Wie komisch ist die denn? Ist die krank? Und ich habe das einfach nicht gesehen. Es tut einfach weh, wenn andere urteilen, obwohl sie dich weder verstehen noch kennen. Außerdem kannst du nichts mehr machen. Du kommst mit keinem mehr klar, nichts macht dir Freude und dein Körper tut dir weh. Ich musste meinen Sport aufgeben. Einen Sport, den ich jahrelang leidenschaftlich verfolgt habe und den ich absolut liebe. Weil dein Körper einfach weh tut. Ich hatte ständig Bauchschmerzen. Du hast deine Gelenke weh. Du gehst shoppen und nach einer halben Stunde tun deine Beine weh. Deine Arme, dein Rücken. Alles schmerzt. Und du bist absolut schwach. Jede kleine Grippe könnte dich umhauen.

Wie hast du Hilfe bekommen?

Ich hatte einen Deal mit meinen Eltern. Ich darf mein Abitur schreiben, aber danach muss ich Hilfe annehmen und in eine Klinik gehen. Es war mir wichtig, die Schule abzuschließen. Aber danach war ich bereit, professionelle Hilfe zu bekommen. Aber hier in Luxemburg gibt es leider keine einzige Klinik, die sich darauf spezialisiert. Ich bin zwar erst hier im Land ins Krankenhaus, aber da lag ich eine Woche lang nur im Bett, bis ich einen Platz in Deutschland auf einer Spezialklinik bekam. In der zweiten Woche dort wurde mir erst klar, dass ich auf dem falschen Weg bin. Vielleicht war es hart, was ich dort erst zu hören bekam, aber ich musste einsehen, wenn ich jetzt nichts ändere, dann stirbst du, dann liegst du da und wirst irgendwann einfach nicht mehr wach. Und ich habe gesehen, was die Magersucht mir an Lebensfreude genommen hatte. Ich lachte nicht mehr, ich konnte überhaupt nichts mehr fühlen, war absolut gefühlskalt. Wenn du damit konfrontierst wirst und du dich dann auf die Hilfe und das Konzept der Klinik einlässt, merkst du plötzlich, wie es dir mit jedem Kilo, das du zunimmst, wieder bessergeht. Meine Beziehungen, zu meinem Freund und meiner Familie, sind wieder viel besser. Man muss aber seinen Ärzten und Therapeuten auch vertrauen. Du musst für eine Veränderung bereit sein.