Die letzten Zuckungen des Glaubenskriegs

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Kurz vor Weihnachten flackert in Nordirland der Glaubenskrieg wieder auf - Katholiken und Protestanten treten sich in Belfast gewaltsam gegenüber. Doch die militanten Verfechter stehen nicht mehr für die Mehrheit der Bürger.

Weihnachten steht vor der Tür – und in Nordirland droht das Fest der Liebe von neuer Gewalt überschattet zu werden. Europas letzter Glaubenskrieg zwischen pro-irischen Katholiken und pro-britischen Protestanten ist noch immer nicht völlig erloschen. Ein weitestgehend lächerlich erscheinender Streit um die Frage, wie oft der britische Union Jack auf dem Rathaus von Belfast gehisst werden soll, führt seit Tagen zu Ausschreitungen mit fliegenden Molotow-Cocktails, Flaschen und Feuerwerkskörpern. Mindestens 32 Polizisten wurden in den vergangenen Tagen verletzt.

Der Belfaster Stadtrat, wo sich Unionisten und die katholisch orientierte Sinn-Fein-Partei sowie liberale Kräfte einigermaßen die Waage halten, hatte es eigentlich gut gemeint. Ein Antrag der stärksten Fraktion Sinn Finn, die rot-weiß-blaue Flagge der britischen Union vom Rathaus zu verbannen wurde deutlich verwässert. Jetzt darf der Union Jack zumindest an „besonderen Tagen“ über der Town Hall wehen. Das rief nun die Unionisten auf den Plan. Sie sehen ihre Stellung in der weiter gespaltenen Ulster-Region in Gefahr.

Geheimdienst kritisiert

Der britische Premierminister David Cameron verurteilte am Mittwoch die Vorgänge in Belfast: „Diese Leute stehen in keiner Weise für das Britische“, sagte er im Londoner Unterhaus. Gleichzeitig musste er das Vorgehen der britischen Geheimdienste im Jahr 1989 kritisieren. Ein frisch vorgelegter Untersuchungsbericht über den Tod des katholisch-irischen Menschenrechts-Anwalts Pat Finucane sagt nämlich glaskar, die britischen Behörden hätten den Mord zumindest nicht verhindert.

Die große Furcht der Unionisten ist heute die Demografie. Die Protestanten befürchten schlicht, von den Katholiken in Nordirland irgendwann mengenmäßig überholt zu werden. Dann könnte ein Referendum angestrengt und der Anschluss an die Republik Irland beschlossen werden. Das ist das erklärte Ziel der linken Sinn-Fein-Partei.

Großteil will den Streit nicht

Tatsächlich zeigte erst vor Tagen eine Erhebung, dass der Anteil der Protestanten in Nordirland erstmals unter die 50-Prozent Marke auf 48 Prozent gefallen ist – fünf Punkte weniger als noch zehn Jahre zuvor. Die Katholiken legten im gleichen Zeitraum um einen Punkt auf 45 Prozent zu. Was die Extremisten auf beiden Seiten aber verkennen: Der Zensus zeigt eindeutig, dass die meisten der 1,81 Millionen Nordiren den ewigen Streit gar nicht wollen und ganz andere Sorgen haben.

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der auch mit britischer Hilfe vor dem Staatsbankrott geretteten Republik Irland halten auch dort die Rufe nach einem Anschluss des Nordens in Grenzen. „Im Moment will das hier keiner“, sagt ein Diplomat in Dublin. Und so sind sich die Kommentatoren auf beiden Inseln einig: Die loyalistische Gewalt in Belfast wird bald wieder versiegen. Der in Nordirland aufgewachsene britische Fernsehreporter Bill Neely sieht in dem jüngsten Gewaltausbruch die „letzten Zuckungen einer sterbenden Idee, nicht den Ausbruch eines neuen Krieges.“