Der Sprengsatz für Europa

Der Sprengsatz für Europa
(Michel Euler)

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Sie sitzt im Europaparlament. Sie ist die Chefin der französischen Populisten. Sie ist Marine Le Pen und die wirkliche Gefahr für Europa.

Marine Le Pen ist ein Widerspruch in sich. Sie sitzt im Europaparlament und bekämpft die Europäische Union. Sie will aus der EU austreten und vom Euro zum französischen Franc zurückkehren. Aber ihre Wähler wollen zu 73 Prozent genau das nicht. Marine le Pen will den Schengenraum verlassen, erzählt ihren Wählern aber nicht, dass damit die Bewegungsfreiheit für Franzosen in Europa eingeschränkt wird. Marine Le Pen will genau das: Die Grenzen Frankreichs schließen.

Und schließlich: Ausländer sollen draußen bleiben. Sind sie schon drin, dann sollen sie so benachteiligt werden, dass sie von allein gehen. Marine Le Pen nennt das geschönt die nationale Präferenz. Über einen letzten Punkt redet sie nicht oder eher im Vorübergehen. Zur Todesstrafe hat sie keine Einstellung, aber das soll dann ein Referendum entscheiden, wenn es von 450.000 Franzosen gewünscht wird. Marine Le Pen wird aller Voraussicht nach am kommenden Sonntag in die Stichwahl des 7. Mai einziehen. Sie ist der Sprengsatz für die Europäische Union und den Euro.

Kampf gegen die Lügen

Selten waren die Chancen für die französischen Populisten so gut wie bei der Präsidentschaftswahl 2017. Lange bevor der Wahlkampf begonnen hatte, stand Marine Le Pen bereits für die Stichwahl fest. Die beiden historischen Parteien, Sozialisten und Republikaner machten sich keine besondere Mühe, den Front national zu bekämpfen.

Sie nahmen die Position der Frau an der Spitze der Rechtsradikalen als gegeben hin. Zwei Kandidaten waren es, die es von Beginn an mit ihr aufnahmen: der Linksradikale Jean-Luc Mélenchon und der Sozial-Liberale Emmanuel Macron. Letzterer scheute sich nicht, ihr öffentlich zu sagen „Sie lügen“ und lässt keine Gelegenheit aus, in seinen Versammlungen die „Lügen“ der Rechtsradikalen zu brandmarken.

Strategisches Vorgehen

Marine Le Pen ist eine von drei Töchtern des Gründers der Bewegung Front national, Jean-Marie Le Pen. Der Vater hatte eigentlich nicht den Wunsch, seine Partei weit ins Land zu tragen. Ihm kam es darauf an, bei der Präsidentenwahl gegenwärtig zu sein. Vor 15 Jahren gelang es ihm, gegen Jacques Chirac in die Stichwahl einzuziehen.

In einer beispiellosen „republikanischen“ Abstimmung gaben Jacques Chirac damals 82 Prozent der Wähler ihre Stimme. Es waren vor allem die Sozialisten, die sich dazu durchrangen, für ihn zu stimmen. Chirac honorierte das nicht und verpasste eine historische, politische Chance, die festgefügten Blöcke links und konservativ aufzubrechen. Der in den Umfragen führende Sozialliberale Emmanuel Macron würde das im Falle seiner Wahl tun müssen.

Marine Le Pen hat eine ganz andere Strategie. Sie will die Macht. Und sie geht strategisch vor. Sie ist in den vergangenen fünf Jahren über die Kommunalwahlen, über die Wahlen in den Départements und schließlich in den Regionen gegangen. Sie hat nach und nach den Front national in ganz Frankreich etabliert. Es ist ihr nicht gelungen, den Präsidenten eines Département zu stellen oder eine Region zu gewinnen. Aber sie ist überall – selbst in der ihr eigentlich nicht zugänglichen Bretagne – vertreten.

Politischer Instinkt

Ihre Strategie hat sie seit einigen Monaten verfeinert. Sie wendet sich jetzt Berufsgruppen zu. Und sucht dort die, die sich in Schwierigkeiten befinden. Die Bauern etwa, die unter tiefen Milch- und Fleischpreisen leiden. Und von denen in der Bretagne im Laufe des Jahres jeder Dritte aufgeben könnte. Sie verspricht den Bauern Neun-Milliarden-Zuschüsse, die man nicht mehr nach Brüssel zahlen müsse, wenn man aus der EU ausgetreten sei. Es ist das, was die britischen Brexit-Befürworter in ähnlicher Form für ihr Gesundheitswesen erzählten. Am Tage nach dem Brexit-Referendum war davon nichts mehr wahr.

Wie Marine Le Pen sich in einem vom FN veröffentlichten Video an die Bauern wendet:

Marine Le Pen hat politischen Instinkt. Sie fühlt, was sie ihren Wählern erzählen darf und was nicht. Die Bewegung ist ihrer Darstellung nach freundlicher geworden, weniger extrem. Im Bezug auf Europa erzählt sie ihren Zuhörern aber immer noch, dass Brüssel Frankreich beherrscht. Im Hintergrund aber hat sich der Front national von nichts getrennt.

Gefahr einer existenziellen Krise

In den Städten, in denen die Bewegung den Bürgermeister stellt, wird Widerspruch nicht geduldet, werden Journalisten ausgegrenzt. Marine Le Pen mag ebenfalls keinen Widerspruch, geht Fragen gerne aus dem Weg. Bei der Vorstellung des Wirtschaftsprogramms vor dem Arbeitgeberverband wollte sie beim Vortrag nicht gestört werden und klammerte sich bei späteren Fragen an ihre Unterlagen.

Frankreich hat sich politisch bereits verändert durch die Verankerung des Front national auf allen Ebenen. Sozialisten und auch Konservative sorgen sich bei ihren Vorschlägen, zu stark in die Nähe der Populisten zu geraten, und bremsen sich dabei selbst. Würde es Marine Le Pen gelingen, am 7. Mai zur Staatspräsidentin gewählt zu werden, wäre die internationale Finanzwelt am nächsten Tag nicht mehr dieselbe und für die Europäische Union bräche eine existenzielle Krise aus.