Wenn die Nacht zum Thriller wird

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Volker Heise erzählt in seinem Debütroman „Außer Kontrolle“ von Zeitgenossen im Lebensstress. Eine Nacht beginnt verheißungsvoll und endet tödlich.

Von unserem Korrespondenten Roland Mischke

Menschen sind der Rohstoff eines riesigen Organismus: Volker Heise erzählt in seinem Debütroman „Außer Kontrolle“ von Zeitgenossen im Lebensstress. Eine Nacht beginnt verheißungsvoll und endet tödlich. Und am nächsten Morgen ist alles wie immer.

Am Ende schwebt am frühen Morgen ein Heißluftballon über Berlin. Zäh entzieht er sich der Anziehungskraft der Erde, von den Leichen der Nacht. Über den Alexanderplatz hinweg und das Krankenhaus Charité, in dem Nadine, eine Überlebende, gegen ihre Albträume im Krankenbett ankämpft. Unten im Keller „lagern die Leichen von Axel Hentschel, Tobias Naujoks und Jan Herzog“, heißt es in Volker Heises Buch „Außer Kontrolle“.

„Blankpolierte Tische aus Stahl warten auf ihre Leiber, kalt und mit Rinnen zum Abfließen der Körperflüssigkeiten.“ Durchschnittsmenschen, deren Leben plötzlich eskalierte, weil sie auf andere trafen, mit denen sie nicht zurechtkamen. Wie Dominosteine kippten sie um.

Autor mischt Ironie etwas Melancholie bei

Heise, 56, Dokumentarfilmer und Grimme-Preisträger, schildert in seinem Romandebüt Einsamkeit und Sehnsucht, ein Gemisch, das einen solchen Druck auf Körper und Geist ausübt, dass Ausrasten die zwangsläufige Folge ist. Die Verkettung von Umständen treibt in Hass, Rücksichtslosigkeit, Rachegelüste. Bei Jan aus Niedersachsen und Nadine aus Vorpommern, die sich als Kollegen im Callcenter kennen lernten. Beim Superkoch Tobias Naujoks im Nobelrestaurant und Polizeiobermeister Axel Hentschel, der mit dem ersten Grau im Haar aus dem Sondereinsatzkommando entfernt und auf Streife gesetzt wurde. Von seinem Chef Goran Kostic, der mit Hentschels Frau schläft. Traurig sind sie, sentimental. Lustig sind in Berlin nur Touristen.

Diese Normalos, als Treibgut angeschwemmt, suchen ihr Glück in der Großstadt – und geraten ins Morden. Nicht gewollt, es geschieht einfach. Berlin ist bei Heise die Kulisse für das Rohe, Verwüstende des Spätkapitalismus, dem er apokalyptische Rasanz attestiert. Menschen sind Randerscheinungen: Obdachlose mit Schnapsflaschen, Junkies tragen „Turnschuhe von der Caritas“. Wie mit einer Kamera hält der Autor auf Szenen, über die er keinen Moralschleim zieht. Heise hat die Fähigkeit zur bösen Ironie, der Melancholie beigemischt ist.

Nacht beginnt verheißungsvoll

Jan will Nadine, die mit einem Bauernsohn in Vorpommern liiert ist. Durch die Beziehung will er die „Scherben, aus denen sein bisheriges Leben besteht, zu einer Ordnung fügen“. Am Abend der Nacht kauft er Verlobungsringe, Nadine leistet sich ein aufreizendes Kleid. Sie sitzen in einem Restaurant, in das sie nicht passen, auch neun Gänge sättigen nicht. Das bringt den Sternekoch in Raserei, sein geliebtes Aquarium geht zu Bruch. Jan gerät in den Observationsfuror von Polizist Hentschel, auf dem Revier kommt es zur finalen Tat und ein junger Arzt schreit bald danach im Kreuzfeuer der Polizei. Die Nacht mit ihren frühen Verheißungen wird zum Thriller.

Buch gleicht einem Protokoll

Das Buch ist kein Roman, es gleicht eher einem Drehbuch. Heise hat mit seinem Dokumentationstagesfilm „24h Berlin“ vorgeführt, wie eine Großstadt gesellschaftlich funktioniert. Im Buch zeigt er nun ihre asoziale Seite. Am Morgen danach ist alles wie immer, die Stadt erwacht zum erneuten Irrsinn, als wenn in den Stunden zuvor nichts passiert wäre. Das wird nicht hämisch erzählt, sondern wie in einem Protokoll und mitunter mit schönen Sätzen. Etwa beim Ballonflug: „Der Wind bläst mit voller Kraft, die Flamme des Brenners lodert, höher und höher geht die Fahrt. Nicht in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit, nicht in die Gegenwart.“

Heises literarisches Debüt treibt eine junge, noch ganz zarte Liebe in ein dramatisches Schicksal. Die Handlung ist auf eine Nacht gedrängt und flankiert von abenteuerlichen Großstadtexistenzen. Wir lesen, wie weit Menschen gehen – für ein bisschen Glück.

Volker Heise: „Außer Kontrolle.“ Rowohlt Berlin, 240 S., 20 Euro.