Orchestraler und stimmlicher Wohlklang

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Es hat immer wieder Versuche und Annäherungen gegeben, die Wagner-Opern psychoanalytisch zu deuten, aber so intensiv und überzeugend wie Bayreuth-Neuling Stefan Herheim ist das seit Kupfers Holländer kaum einem gelungen. Von unserem Korrespondenten Alain Steffen aus Bayreuth

Sicher, die Grundidee wurde schon in Victor Flemings amerikanischem Filmklassiker von The Wizard of Oz verwendet, wo die Hauptprotagonistin (gespielt von Judy Garland) die gesamte Handlung erträumt und wo die Personen des realen Lebens zu lebendigen Traumfiguren werden. Herheims Parsifal beginnt während des Vorspiels mit dem Sterben von Parsifals Mutter Herzeleide, die, während sie mit dem Tode ringt, ihren Sohn noch einmal umarmen will. Der kleine Parsifal wendet sich aber angsterfüllt von ihr ab und läuft fort. Nach dem Tode der Mutter baut Parsifal eine Mauer um sich, in langen Nächten liegt der Junge oft in Fieberträumen und verarbeitet das Geschehene, seine Schuld. Alle Traumfiguren haben etwas mit Parsifals Realität zu tun. Gurnemanz ist der Diener, Kundry Mutter und Haushälterin, Amfortas der Ritter aus dem Bild. Im Traum treten alle Figuren als Engel mit schwarzen Flügeln auf. Parsifal selbst erträumt, wie er sich mit dem Bogen erschießt. Durch diesen Traum über drei Akte erfährt Parsifal seine seelische Genesung, indem er die Amfortas-Wunde mit dem heiligen Speer schließt. Alleine im ersten Akt bringt Herheim so viele Deutungsmöglichkeiten, dass es für Freudianer sicher eine helle Freude wäre, dies alles zu analysieren. Schuld, Verdrängung, Ödipus-Komplex, Sexualität, alles ist vorhanden. Die Bühnenbilder von Heile Scheele sind dabei ebenso atemberaubend wie die Kostüme von Gesine Völlm. Aber Herheim belässt es nicht bei dieser psychoanalytischen Deutung. Parallel setzt er zugleich die Rezeptionsgeschichte der Oper Parsifal in Szene. Herheims Parsifal beginnt zur Zeit des deutschen Kaiserreiches, führt den Zuschauer über den Wilhelminismus und den Ersten Weltkrieg zum deutschen Kino und seinen Revuen, zum Zweiten Weltkrieg und schließlich zur Bonner Republik und dem Bundestag. In einem riesigen Spiegel kann sich zum Schluss das Publikum selbst betrachten, als ein Teil der Geschichte, als ein Teil der Parsifal-Rezeption. Zudem lässt die Bühnenbildnerin die ganze Geschichte in Wahnfried (1. und 2. Akt) und dem Festspielhaus (3. Akt) spielen. Und für die Gralsfeier hat man sogar das Originalbühnenbild des Gralstempels von Paul von Joukowsky aus dem Uraufführungsjahr 1882 nachgebaut. Während dieser Zeitreise begegnet man u.a. dem 1. Gralsritter Charles Darwin (der als Arzt Herzeleide behandelt), Kundry als Marlene Dietrich (Der blaue Engel lässt grüßen!) und Klingsor als eine Mischung zwischen Siegfried Wagner (in Strapsen) und Gustav Gründgens. Dies alles ist umso faszinierender, weil der Regisseur es versteht, alle Informationen, Details und Figuren plausibel in ein Gesamtkonzept zu setzen, das darüber hinaus alle Möglichleiten zur Interpretation lässt und trotzdem seine Geschichte logisch und konsequent erzählt. Seit Kupfers Ring hat man keine derart schlüssige und atemberaubende Inszenierung auf der Bayreuther Bühne gesehen.

Schönheit und Ausdruck

Und musikalisch muss man schon bis zu James Levine Anfang der achtziger Jahre zurückdenken, um Parsifal-Aufführungen zu finden, die in Sachen Schönheit und Ausdruck mit dieser hier verglichen werden können. Es war musikalisches und sängerisches Top-Niveau, was dem Publikum hier geboten wurde. Entdeckungen gab es gleich mehrere. Allen voran möchte ich Daniele Gatti nennen, der die Parsifal-Musik in den schönsten Farben zum Leuchten brachte und im letzten Akt mit extrem langsamen Tempi die Musik quasi von allem Irdischen löste. Da, wo vor einigen Jahren Eschenbachs Langsamkeit das Werk zum Zusammenbruch brachte und die Sänger Mühe hatten, wenigstens einigermaßen über die Runden zu kommen, betörten uns nun alle Sänger mit hervorragendem Gesang. Kwanchul Youns Gurnemanz war eine Sensation und erinnerte mehr als einmal an den unvergesslichen Hans Hotter. Youns Stimme besitzt eine unwahrscheinliche Wärme und Ausdruckspalette, hinzu kommen ein sehr angenehmes Timbre und eine technisch immer sehr sicher geführte Stimme. Auch Christopher Ventris bot als Parsifal eine wirkliche Glanzleistung. Ausgestattet mit viel Metall in der Stimme, ist er aber auch zu einem sehr lyrischen Vortrag fähig. Die Karfreitagsszene wurde so dank ihm und Youn zu einer wahren Lektion in Sachen Belcanto. Detlef Roth sang einen markanten und ergreifenden Amfortas, es war eine reine Freude, dieser gesunden Stimme zuzuhören. Auch der Klingsor von Thomas Jesatko gefiel, weil hier endlich ein Sänger zur Verfügung stand, der die Rolle nicht mit Sprechgesang und Geschreie anging, sondern sie mit einem exzellenten Gesangsvortrag auszufüllen wusste. Wenn es einen Schönheitsfehler in dieser Aufführung gab, dann war es wohl die Kundry von Mihoko Fujimura, die zwar über ein beeindruckendes Stimmmaterial, besonders in der Höhe, verfügt, in ihrer Personenzeichnung und gesanglichen Gestaltung aber irgendwie flach blieb. Die Leistung des Chores war wie immer erstklassig. Fazit: Endlich kann man in Bayreuth wieder große Oper erleben, szenisch, musikalisch und sängerisch!