Alain spannt den Bogen„Nichts ist, wie es scheint“

Alain spannt den Bogen / „Nichts ist, wie es scheint“
Dimitri Liss dirigierte am 6. März das OPL  Foto: Alfonso Salgueiro

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Unser Mitarbeiter Alain Steffen führte dieses Interview am Vortag des Konzertes vom 6. März mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg.

Tageblatt: Herr Dimitri Liss, morgen Abend dirigieren Sie die 7. Symphonie ihres Landsmannes Dimitri Schostakowitsch. Was sind für Sie persönlich die wesentlichen Merkmale dieses Werks?

Dimitri Liss: Werke wie die 7. Symphonie von Schostakowitsch besitzen eine musikalische Stärke, die sie weit über eine Zeitperiode hinaushebt. Schostakowitsch beschreibt ja einerseits in diesem Werk die Situation Leningrads, der Menschen und des Widerstandes gegen die deutschen Besetzungsmächte während des 2. Weltkriegs. Nun, für mich ist diese Symphonie weit mehr als nur eine Kriegssymphonie und obwohl sie teilweise ein Programm hat, so ist ihre Botschaft doch universell. Natürlich besitze ich als Russe ein ganz besonderes Verhältnis zu dieser Musik, da sie meine Geschichte, die Geschichte Russlands und die Menschen Russlands direkt betrifft.

Aber die Werkrezeption hat sich im Laufe der letzten 70 Jahre doch sicherlich verändert.

Auf jeden Fall. Früher war man als Interpret und auch als Publikum natürlich in erster Linie auf den historischen Background fokussiert, im Laufe der Jahrzehnte aber hat sich die Musik selbst davon gelöst und steht für weitaus größere, ethischere Begriffe wie Humanismus, Liebe, Solidarität und Gesellschaft. Und dieser anscheinende Widerspruch zwischen Humanismus und Totalitarismus findet sich eigentlich in den allermeisten von Schostakowitschs Symphonien wieder. Nichts ist, wie es scheint, und Schostakowitschs Botschaft kann man eigentlich nur mit reinem Herzen erfahren. Die 7. Symphonie ist eigentlich ein sehr optimistisches Werk, ein Werk voller Leidenschaft und positiven Botschaften, auch wenn der triumphale Schluss nicht als Jubel, sondern eher als Mahnung gedeutet werden muss.

Schostakowitsch hat ja immer wieder einen programmatischen Inhalt zum Verständnis seiner Werke verfasst. Dennoch erlebe ich seine Musik viel eher als absolute Musik.

Hmm, ich weiß es nicht. Schostakowitschs Musik ist immer autobiographisch und er lässt den Zuhörer an seinen Seelenqualen teilhaben. Natürlich ist das Programm nur eine Hilfestellung und soll den Hörer bestenfalls leiten. Aber ich denke, und da sind wir dann doch sehr nahe an dem Begriff der absoluten Musik, löst sich die Musik irgendwann von ihrem Programm und beginnt, als Klang, als Emotion ungebunden und frei zu existieren. Und das sind die Momente, wo er den aufmerksamen Hörer richtig berührt. Das hat dann nichts mit Soldatenmarsch, Trommelfeuer und Kanonenlärm zu tun, die Musik hat sich so verselbstständigt, dass sie für sich selbst spricht. Und dann hat sie auch die Kraft, wirklich jeden als Menschen tief in seinem Herzen zu berühren.

Schostakowitschs Symphonien haben für mich eine derartige Intensität, dass ich mich frage, ob es wirklich gut ist, dass fast jedes international renommierte Orchester auf seiner Tour eine Schostakowitsch-Symphonie im Programm hat. Und manchmal habe ich den Eindruck, als würde seine Musik dann nur zu reinen Vorzeigezwecken der Potenz eines Orchesters gespielt. Für mich passen die Ernsthaftigkeit und Tragik der Musik einfach nicht zu diesem Show-Betrieb.

Eine sehr interessante Überlegung. (Pause) Tatsächlich ist es so, dass man diese Tatsache aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten muss. Das sind zum einen der Dirigent und das Orchester, die sich ernsthaft mit einer Interpretation einer Schostakowitsch-Symphonie auseinandersetzen. Für sie ist das dann eine einmalige Sache, denn als Dirigent dirigiere ich nicht jedes Mal Schostakowitsch. Meine letzte Siebte ist schon fünf Jahre her. Aber es stimmt, wenn das gleiche Publikum kurz vorher das Concertgebouw mit der Fünften, das Mariinsky mit der Zehnten und das Boston mit der Elften gehört hat, dann kann das schon zu Abnutzungserscheinungen im Hörprozess kommen. Und diese Feststellung gilt nicht nur für Schostakowitsch. Es gibt sehr viele Komponisten wie Beethoven, Brahms, Bruckner oder Mahler, die immer wieder auf den Spielplänen stehen. Aber das ist nun mal der Konzertbetrieb.

Hat man als russischer Dirigent denn ein besonders enges Verhältnis zu der Musik von Schostakowitsch?

Sagen wir es so: Natürlich hat jeder Interpret eine gewisse Verpflichtung der Musik seines Vaterlandes gegenüber. Schostakowitsch ist mir sehr wichtig, aber nicht nur er. Sehen Sie, in meiner Karriere habe ich seine Fünfte erst ein einziges Mal dirigiert. Ich glaube, es ist falsch, das Können der Künstler ausschließlich auf ihr Heimatland festzulegen. Es ist zu einem beliebten Klischee geworden, anzunehmen, dass ein skandinavischer Dirigent besonders gut Sibelius dirigiert, dass ein französisches Orchester die schönsten Farben bei Debussy hervorzaubern kann und dass nur ein polnischer Pianist imstande ist, den authentischsten Chopin zu spielen. Das ist natürlich Unsinn. In diesem Sinne dirigiere ich persönlich genauso gerne Beethoven wie auch Schumann, Tschaikowsky oder zeitgenössische Musik.

Sie haben gesagt, dass sie die berühmte 5. Symphonie von Schostakowitsch nur einmal dirigiert haben. Wieso eigentlich?

(lacht) Daran ist Yewgeni Mrawinski schuld. Als Kind habe ich mir diese Symphonie sehr oft auf Schallplatte angehört, und zwar in der Interpretation der Leningrader Philharmoniker unter Mrawinski. Seine Interpretation hat mich dann so geprägt, dass, wenn ich die Partitur öffne und lese, ich sofort Mrawinskis Interpretation höre. Ich konnte und kann auch heute noch nicht meinen wirklich eigenen Weg zu diesem Werk finden. Ich habe es versucht, weil mein Orchester, das Ural Philharmonic Orchestra, die Symphonie unbedingt spielen wollte. Aber für mich war es ein Fehler. Nun warte ich und hoffe, dass irgendwann der Moment kommt, wo ich meinen eigenen Zugang zu dieser Musik finden kann. Und dann endlich dem Fluch Mrawinskis entkommen kann. (lacht)

Merken Sie, dass die Publikumsreaktionen verschieden sind, je nachdem, wo sie Schostakowitsch dirigieren?

Nein, ich habe mit dem Ural Philharmonic Orchestra Schostakowitsch schon überall gespielt, aber die Reaktionen des Publikums waren überall gleich. Obwohl seine Musik von Trauer, Leiden und Tod erzählt, erfüllt sie das Publikum, ob in Russland, Deutschland oder Polen, mit Begeisterung.

Sie haben jetzt zweimal Ihr Orchester angesprochen. In unseren Breiten ist das Ural Philharmonic Orchestra dem Publikum kein wirklicher Begriff. Von seiner ungeheuren Kapazität aber konnten wir uns hier vor ein paar Monaten selbst überzeugen.

Das Orchester ist an sich ein sehr interessanter Klangkörper, bedingt auch dadurch, dass er an der Schnittstelle asiatischer, europäischer und russischer Einflüsse liegt. Wir versuchen natürlich, all diesen Einflüssen gerecht zu werden. Und das verlangt schon eine große Offenheit seitens der Musiker, die an einem Tag Werke eines japanischen Komponisten spielen, am Tage darauf eine Beethoven-Symphonie aufführen müssen und wenn es geht, noch ein Werk eines zeitgenössischen Komponisten.

Russische Komponisten wie Glinka und Borodin oder Rimsky-Korsakow waren deshalb auch sehr angetan, orientalische Melodien und Klänge in ihre Werke einfließen zu lassen. Denken Sie an Scheherazade oder Ruslan und Ludmilla. Später fand man im 20.Jahrhundert bei russischen Komponisten dann Einflüsse von Messiaen und Magnard. Damit will ich sagen, dass russische Komponisten immer sehr offen für Musik aus anderen Ländern und Kulturen waren. Und in diesem Sinne funktioniert auch das Ural Philharmonic Orchestra, weil es quasi an der Quelle dazu sitzt. Die Musiker sind sehr offen und intelligent und können fast alles sofort vom Blatt spielen, auch zeitgenössische Musik. Das Orchester will arbeiten, will seinen Horizont erweitern und deshalb bin ich schon seit 25 Jahren Chefdirigent hier. Und ich kann Ihnen sagen, wir sind noch lange nicht am Ende unserer Zusammenarbeit angelangt und es macht mir noch immer sehr viel Spaß, mit dem Ural Philharmonic Orchestra zu arbeiten und dabei neue musikalische Welten zu entdecken.