Entschleunigung durch Beschleunigung

Entschleunigung durch Beschleunigung

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In einer Welt, die sich immer schneller dreht, fand vorletzten Freitag die Premiere von Andrea Ramas Stück „3,14 Pi“ im Rahmen des „3 du Trois“ in der Banannefabrik statt. Es war die Weiterführung der schon während des TalentLAB 2017 der „Théâtres de la ville“ angefangenen Arbeit des jungen, aus Albanien/Griechenland stammenden Choreografen.

Rama veranstaltete eine Art choreografisches Rennen mit seiner Tanzpartnerin: Beide, wie Läufer und Läuferin angezogen, drehten „einfach“ Runden. Manchmal hoben sie die Arme, schauten auf die Seite oder wechselten den Schritt. Der Rhythmus war sehr streng gehalten, keine Musik wurde unterlegt, das Publikum hörte nur Schritte und Atmung. Andrea Rama ließ in den Lauf Tanzbewegungen sehr subtil einfließen, arbeitete stark mit seinem und mit dem Körpergedächtnis seiner Partnerin und verlangte beiden einiges ab.

Gepacktes Publikum

Andrea Rama schaffte mit seinem Stück etwas sehr Spannendes: Er entschleunigte die Zeit, indem er sie „beschleunigte“, weil er sich und die Tänzerin im Kreis rennen ließ. Die Virtuosität der Tänzerin (eine unglaubliche Maria Bregianni, die die verletzte Rhiannon Morgan kurzfristig ersetzte) und des Tänzers (Andrea Rama selbst) trug dazu bei, dass das Publikum sehr schnell gepackt wurde. Die Laufrunden wurden immer nur durch dazugehörende, perfekt koordinierte Bewegungen unterstützt, die sich so entwickelten, dass wir die Veränderungen kaum wahrnahmen und immer wieder überrascht wurden. Unsere Zeit, die durch E-Mails, Smartphones und das ständige Abrufbarsein bestimmt wird, wurde durch die Betrachtung von zwei rennenden Menschen plötzlich relativiert.

Obwohl der Laufschritt der zwei Personen auf der Bühne nicht abnahm und eher das Gegenteil zu erwarten war, wurde die Zeit statt (noch) schneller immer langsamer und förderte einen Moment der Betrachtung, im Sinne einer Kontemplation. Einen solchen zu schaffen ist eine echte Leistung in unseren Leben, die normalerweise keinen Raum dafür zulassen. Theater-, Konzert- oder Tanzräume gehören vielleicht noch zu den wenigen Orten, die uns heute einen kurzen Moment der Einkehr gewährleisten können (auch weil Handys verboten sind?).

Der Reist bleibt liegen

Unsere westliche Welt wird so von Informationen überflutet, dass eine strenge Priorisierung notwendig wird. Nur mehr das Dringlichste wird bearbeitet, indem „der Rest“ einfach liegen bleibt („Aufschub“ oder „Verschleppung“ wird das dann genannt). Der Druck weicht aber nicht (egal, auf welchem Niveau, niemand entkommt dem), dabei wären Einkehrmomente und „Langeweile“ nötig für die Förderung der Kreativität, die ja die Basis von sehr vielen Jobs sein sollte und in keinem Jobprofil fehlt. Viele Menschen fühlen sich damit überfordert und kommen nicht mehr mit. Burn-out ist in allen Arbeitsbereichen zur Volkskrankheit geworden.

Das Publikum tauchte vorletzten Freitag in einen Alphazustand ab, wie wir ihn nur aus der Meditation kennen. Wir bräuchten mehr solche Momente, die uns an die wirklich wichtigen Sachen im Leben erinnern.

Ein Beitrag in unserer Reihe „Mercuria 72“ von Ainhoa Achutegui.