„Das Theater hat mich grundlegend verändert!“

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„Ich bin nicht verrückt, nein, ich bin nicht verrückt“, fleht er die Zuschauer an. Dann sticht Charlotte Corday zu, Marat bricht tot in der Wanne zusammen, die Welt ist um eine Hoffnung ärmer. Wolf H. Wagner, Volterra

„Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielergruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ ist das diesjährige Kernstück des Festivals „volterrateatr08“. Gespielt wird das Peter-Weiss-Drama – meist kurz „Marat/Sade“ genannt – von der „Compagnia della Fortezza“, die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feierte. Hinter den hohen Gitterstäben des Irrenhauses von Charenton präsentiert der Direktor der Anstalt dem illustren Pariser Publikum ein Spektakel, das von seinen Zöglingen aufgeführt wurde. Der Marquis de Sade – ebenfalls nach seiner langen Bastille-Haft Insasse des Hospizes von Charenton – arrangiert das Drama um die Ermordung Jean-Paul Marats. Die reichen Bürger der französischen Hauptstadt ergötzen sich an dem Gestammel, Gestampfe, Gestöhne, an den Ausbrüchen der irren Schauspieler. Der geistig verwirrte Darsteller des Marat macht sich dessen Gedankenwelt von einer gerechten Gesellschaft zu eigen, der geistig klare, wegen der angeblich moralischen Bedrohung der Gesellschaft einsitzende de Sade hält seine Ideen vom individuellen Glück des Menschen dagegen: Welches ist das anzustrebende Ziel?

Ist die Welt ein Tollhaus?

Vergessen wir nicht: Wir befinden uns im Innenhof eines Hochsicherheitsgefängnisses in Italien. In dem Land, in dem sich gerade eben erst der amtierende Regierungschef mittels der parlamentarischen Mehrheit seiner Partei absolute Straffreiheit verschafft hat – ein einzigartiger Vorgang in der europäischen Politik. In einem Land, in dem die rechts orientierten Minister der Berlusconi-Regierung eine strikte, eine rigide Law-and-order-Politik durchsetzen wollen, mit dem Einsatz des Militärs in den Straßen der Städte. In dem Land, in dem Regierung und von ihr beherrschte Medien eine Sicherheitsfurcht unter der Bevölkerung schüren. Da rührt sich auch die Angst, wie lange es möglich sein wird, dass Gefangene einer Strafvollzugsanstalt Theater spielen. Schon melden sich Stimmen, dass das Geld doch woanders besser investiert wäre, für die Polizei, für die Sicherheit der Bürger. Doch die Gefangenen spielen erfolgreich Theater, und dies nun bereits 20 Jahre. „Unser Ziel ist es, aus dem Gefängnis als einem Ort der Strafe einen Ort der Kultur zu machen. Eine Veränderung zu schaffen, die auch die Menschen verändert, die als Insassen der Medici-Festung von Volterra ihre Strafe verbüßen“, fasst Armando Punzo, Gründer, Regisseur, Autor und Mitakteur der „Compagnia della Fortezza“, sein Credo zusammen. In diesem Ziel unterstützt wird der vor langen Jahren aus Neapel gekommene Künstler von der Anstaltsleitung. Die Direktorin der Strafvollzugsanstalt Volterra, Dr. Maria Grazia Giampiccoli, drückt dies so aus: „Wir wollen ein stabiles Theater schaffen. Mit diesem Ausdruck meinen wir kein festgefahrenes, starres Theater. Sondern wir wollen erreichen, dass trotz aller finanziellen Schwierigkeiten und mancher Vorbehalte hier in der Festung von Volterra Theater auf hohem Nivea gespielt werden kann. Dies ist gut für die Häftlinge, es ist aber auch gut für Volterra, für die Region.“ „Das Theater hat mich verändert“, unterstreicht Jamel bin Salah. Noch vor fünf Jahren, so meint der gebürtige Tunesier, habe er anderen gegenüber nicht über sein Leben sprechen können. In einem Stück der eher leisen Töne trägt er „Das Buch des Lebens – die Geschichte von Ali“ vor. Es sind die autobiografischen Notizen eines früheren marokkanischen Mitgefangenen, Mimoun el Barouni. Ein typisches Schicksal eines Nordafrikaners: aus Marrakesch nach Marseille gegangen, um in Europa sein Glück zu suchen. Von dort führte der Weg nach Genua, um nach Amerika zu gelangen. Amerika, der Traum von Freiheit und Wohlstand. Stattdessen beginnt eine kriminelle Karriere, um zu überleben. Verhaftung, Verurteilung und sieben Jahre Haft in Volterra. Und dort eben das Theater – heute lebt Mimoun el Barouni als erfolgreicher Schauspieler in Finnland. Und Jamel? „Meine Lebensgeschichte ähnelt in vielem der Alis, bei der Arbeit an dem Stück habe ich viel von mir erfahren.“ Gerade eben, als das Stück uraufgeführt wurde, rief die Regierung den Notstand für das ganze Land aus: Die Verordnung gestatte es den Behörden, illegale Einwanderer in Lager zu konzentrieren. „Unter solchen Umständen“, sagt Jamel, „ist es schwer, Arbeit zu finden. Bald beginnt man, aus Not zu stehlen, und manche landen dann hier im Gefängnis.“ Im Gefängnis war auch Rick Cluchey. Der heute 74-jährige Amerikaner saß lebenslänglich wegen Raubes und Kidnapping in San Quentin. Dort gründete er mit Hilfe des irischen Dramatikers Samuel Beckett „The San Quentin Drama Workshop“. Die Stücke, die das – weltweit wohl erste – Gefängnistheater zur Aufführung brachte, sollten die Öffentlichkeit auf die ärmlichen Bedingungen in den US-Haftanstalten aufmerksam machen. Auch nach seiner Haftentlassung setzte sich Cluchey für die Rechte von Häftlingen ein. In Volterra gastierte er mit dem Beckett-Stück „Krapp’s last Tape“ (Das letzte Band) – mit dem er schon in den siebziger Jahren das Publikum von Berlin und Paris begeisterte. Bessert Theater im Gefängnis die Menschen? Cluchey bejaht, die Volterraner Insassen ebenfalls.

Ist diese Gesellschaft zu bessern?

Pinocchio zweifelt. „Pinocchio – ein Schauspiel der Vernunft“, Armando Punzo brachte das Stück, das im vergangenen Jahr Premiere hatte, in einer überarbeiteten Fassung auf die Bühne. Pinocchio, die Puppe, wollte unbedingt ein kleiner Mensch werden. Punzos Pinocchio – nachdem er die Welt erfahren hatte – wünscht sich zurück: Nicht nur zur Puppe, sondern zum Holz, zum Baum, aus dem er stammte, will er werden, gemeinsam mit anderen Bäumen in einem Wald leben, nach den Gesetzen der Natur. Indes, er kann nicht zurückkehren. Verzweifelt muss er auf der Welt bleiben, muss dieses Leben leben. Esel, Kater, Fuchs, die Puppen aus dem Marionettentheater – alle werden angefleht. Mit ihrer Hilfe kann Pinocchio das Leben erträglicher machen, ändern kann er es nicht. Und ist er ein Sinnbild für viele Italiener in diesen Tagen, die an den Verhältnissen verzweifeln: der Müll in den Straßen Neapels, Mafiaverbrechen und Staatskorruption und dazu Politiker, die ihre eigenen Interessen über die der von ihnen Regierten stellen. „Wir haben offensichtlich keine Chance in dieser Welt der Mächtigen“, meint Punzo. „Und doch will ich mit meinen Stücken zeigen, dass ein menschlicher Weg der Gesellschaft gangbar wäre.“ „Ich bin nicht verrückt“, stammelt der Marat-Darsteller in seiner Badewanne. Der Zeremonienmeister kündigt den letzten Besuch der Charlotte Corday an. Die Mörderin kommt, sticht zu, der Vorhang fällt.
Welch großartiges Theater! Hoffen wir – allen Restriktionen zum Trotz – auf weitere Jahre.