DeutschlandWolodymyr Selenskyj per Video im Bundestag

Deutschland / Wolodymyr Selenskyj per Video im Bundestag
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht auf einer Videoleinwand im Bundestag und bekommt Applaus von der Bundesregierung Foto: dpa/Michael Kappeler

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Tag 22 des Krieges in der Ukraine. Präsident Wolodymyr Selenskyj packt die Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit einer beeindruckenden Rede beim Gewissen. „Bitte, helfen Sie uns!“ Das Hohe Haus applaudiert – stehend.

In Kiew sind wieder Bomben gefallen. Ein Hochhaus ist getroffen. Auch in der Nähe des Präsidentenpalastes soll es einen Einschlag gegeben haben. Doch dann steht diese Videoschalte nach Berlin – mit einigen Minuten Verzögerung nach technischen Problemen. Wolodymyr Selenskyj blickt in die Kamera. Seine Zuschauer an diesem Morgen sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und die Mitglieder der Bundesregierung. Die Reihen im Hohen Haus sind voll besetzt. Um 9.04 Uhr stehend Applaus für Selenskyj. „Herr Präsident, wir können Sie sehen. Ihr Land hat sich für die Demokratie entschieden. Und genau das fürchtet Wladimir Putin“, begrüßt Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt den Redner in Kiew. Ein Präsident im Krieg, der kaum noch schläft, schickt seine Botschaft in die für ihn vermutlich wichtigste europäische Hauptstadt. Tags zuvor hatte er – ebenfalls per Videoauftritt – im US-Kongress eine Flugverbotszone der NATO gefordert, und falls dies nicht möglich sei, zumindest neue Kampfjets und Flugabwehrsysteme für seine Streitkräfte.

Selenskyj – im khakibraunen Militärhemd vor ukrainischer Flagge – wird sofort direkt. „Ich wende mich an euch. Russland bombardiert unsere Städte und zerstört alles, was da ist.“ Krankenhäuser, Kirchen, Kindergärten, Schulen. Tausende Ukrainer seien seit Kriegsbeginn am 24. Februar gestorben, darunter 108 Kinder. Der Präsident blickt eindringlich in die Kamera und somit in den Plenarsaal. Ja, es gebe Sanktionen gegen Russland. „Aber es sind Sanktionen, die vielleicht zu wenig sind, um diesen Krieg zu stoppen.“ Selenskyj kritisiert, dass deutsche Unternehmen in Russland geblieben seien. In einem Land, „das euch einfach ausnutzt, diesen Krieg zu finanzieren“. Unter den Abgeordneten gibt es an dieser Stelle betretene Gesichter. Die Ukraine habe immer darauf hingewiesen, dass die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 „eine Waffe“ sei. Und die Antwort aus Deutschland? „Es ist Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft.“ Und jetzt zögere man wieder – mit dem Wunsch seines Landes nach Beitritt in die Europäische Union.

Der ukrainische Präsident berichtet über die Zerstörung der Hafenstadt Mariupol. „Die russischen Streitkräfte vernichten alles und alle, die da sind.“ Er plädiert für eine Luftbrücke, „damit der Himmel sicher ist“. Die Botschaft einer Luftbrücke könnte man gerade in Berlin verstehen. „Ich wende mich an euch, denkt an eure Eltern, die den Krieg überlebt haben.“ Wieder werde in Europa versucht, „ein ganzes Volk zu vernichten“. Aber Selenskyj ist entschlossen: „Wir kämpfen darum, unser eigenes Volk zu erhalten.“ Und dann die Hoffnung: „Die Ukraine wird in der Europäischen Union sein.“ Gerade werde wieder versucht, eine Mauer in Europa zu errichten. Selenskyj wendet sich direkt an Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Regierungsbank: „Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient. Bitte, helfen Sie uns, helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen.“ Um 9.22 Uhr applaudieren die Abgeordneten des Bundestages erneut – wieder stehend. Vizepräsidentin Göring-Eckardt verabschiedet Selenskyj mit dem Gruß der Freiheitsbewegung auf dem Maidan von 2014: „Slawa Ukraini – hoch lebe die Ukraine.“

Keine Debatte

Die Union hätte sich nach einer solchen Rede eine Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz gewünscht. Zumindest eine Debatte direkt im Anschluss an den Videoauftritt von Selenskyj. Doch diese Debatte gibt es nicht. Erst am Nachmittag steht eine Aktuelle Stunde zur Lage der ukrainischen Flüchtlinge auf der Tagesordnung. Unionsfraktionschef Friedrich Merz tritt ans Pult, mahnt Scholz, dieser müsste sich in einer solchen Lage an die Nation wenden. „Wo stehen wir, haben wir das richtig gemacht?“ Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann glaubt, Merz wolle nur „die Gunst der Stunde nutzen, seiner Fraktion einzuheizen“. Taktik also. Außenministerin Annalena Baerbock hatte tags zuvor gesagt: „Zuhören, das Wort stehen lassen, das ist doch eine Stärke in diesem Moment.“ Nur damit ist es nicht getan. Der Krieg geht weiter. Auch an Tag 22 seit Kriegsausbruch.

Im Bundeskanzleramt ist am Mittag NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu Gast. Stoltenberg bereitet den Sondergipfel der Allianz in der kommenden Woche vor. Scholz versichert: „Wir stehen an der Seite der Ukraine.“ Er stellt Selenskyj weitere Unterstützung, womöglich auch Waffen, in Aussicht, macht aber erneut klar: „Die NATO wird nicht militärisch in diesen Krieg eingreifen.“ Und auch Stoltenberg betont: „Die NATO trägt Verantwortung dafür, diesen Krieg nicht weiter eskalieren zu lassen.“ Der Krieg geht weiter. Am Freitag ist Tag 23. Selenskyj wird sich wieder das khakibraune T-Shirt überziehen. Und weiterkämpfen.