Warum sich Radio 100,7 in einem Machtkampf mit ungewissem Ausgang befindet

Warum sich Radio 100,7 in einem Machtkampf mit ungewissem Ausgang befindet

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Ein Präsident, der sich selbst als Vertrauensmann des Premiers bezeichnet. Ein Direktor, der kurz vor den Wahlen seine Kündigung einreicht. Eine Chefredaktion, die öffentlich gegen den eigenen Verwaltungsrat vorgeht. Und Personal, das die Vorgehensweise der Chefredaktion kritisiert: Was ist los bei Radio 100,7?

Am Tag nachdem Jean-Paul Hoffmann seinen Rücktritt erklärt hat, fasst die Chefredaktion von Radio 100,7 einen Entschluss. Jean-Claude Franck und Pia Oppel wollen über das eigene Haus berichten. Über die Missstände im Verwaltungsrat. Über medienpolitische Interessenkonflikte. Über die ignorierten Warnungen von Europäischen Experten. Und über die latente Gefährdung der Unabhängigkeit für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Franck und Oppel sind sich darüber im Klaren, dass ihre Recherche so kurz vor den Parlamentswahlen Zündstoff birgt – im ungünstigsten Fall sich auch gegen sie selbst wenden kann. Aber sie gehen das Risiko ein. Denn es gehe um nichts Geringeres als die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Luxemburg.

Die beiden informieren den Großteil der Redaktion über ihr Vorhaben und recherchieren zwei Tage. Den fertigen Entwurf ihrer Medienchronik legen sie noch vor der Veröffentlichung sowohl dem scheidenden Direktor als auch dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats, Laurent Loschetter, vor. Und der Präsident hat laut eigenen Angaben nichts daran auszusetzen. „Ich greife natürlich nicht in redaktionelle Inhalte ein“, sagt Loschetter. So wird die Medienchronik „Eng Gefor fir d’Onofhängegkeet“ am 2. Oktober gesendet. Seither ist aus dem Radio, das lange Zeit als „Geheimsender“ belächelt wurde, ein Politikum geworden – mit ungewissem Ausgang.

Mehr Personal, mehr Geld

Wie konnte es so weit kommen? Ein Teil der Antwort findet sich im Frühling 2017. Damals befindet sich Direktor Jean-Paul Hoffmann in Gesprächen mit Medienminister Xavier Bettel. Es geht um die nächste Konvention für 100,7. Kurz zuvor hat die Regierung bereits einen Konzessionsvertrag mit RTL und dem Bertelsmann-Konzern unterzeichnet: Zwischen 2021 und 2023 wird RTL für sein Nachrichtenprogramm im Fernsehen jährlich bis zu 10 Millionen Euro an staatlichen Geldern erhalten.

Hoffmann nimmt den RTL-Vertrag als Steilvorlage, um auch für 100,7 mehr herauszuschlagen. Seit Jahren fordert er mehr Personal, mehr Geld, um das öffentlich-rechtliche Programm weiter zu professionalisieren. Doch die Gespräche stocken. Der Medienminister und sein Kabinettschef Paul Konsbrück sehen nicht ein, warum das Budget des Radios, das bei rund 6 Millionen Euro liegt, noch weiter erhöht werden soll.

Es ist schließlich Paul Konsbrück, der vorschlägt, ein Audit bei Radio 100,7 durchzuführen. „Gerne“, soll Hoffmann gesagt haben. „Ich kenne auch schon jemanden, der das übernehmen könnte.“ Entgegen dem branchenüblichen Reflex, die sogenannten „Big four“ einzuschalten, die größten Wirtschaftsprüfungsunternehmen der Welt, hat Hoffmann eine andere Idee. Er schlägt die Europäische Rundfunkunion (EBU) vor. Es handelt sich um eine kostengünstige Variante von öffentlich-rechtlichen Experten. Der Vorschlag wird angenommen.

Der Vertrauensmann

Was Medienminister Bettel damals noch nicht ahnt: Das Gutachten der EBU wird die Forderungen von Hoffmann unterstreichen: Radio 100,7 soll sein Programm ausbauen und mehrsprachig senden. Doch vor allem: Es wird die Nähe zur Regierung beanstandet. Sowohl die exklusive Finanzierung über den Haushalt des Medienministeriums als auch die Gouvernance stellen ein „Risiko der Politisierung“ sowie eine „Gefahr für die Unabhängigkeit“ dar. Doch das EBU-Gutachten vom April 2018 wird sowohl beim Verwaltungsrat von 100,7 als auch beim Medienministerium auf wenig Interesse stoßen. „Es ist gleich in der Schublade verschwunden“, heißt es.

Das Desinteresse am Gutachten steht im Zusammenhang mit einer Personalie. Im Sommer 2017 wird Laurent Loschetter von der Regierung zum Vorsitzenden des Verwaltungsrats bei Radio 100,7 ernannt. Der erfolgreiche Unternehmer (DSL, Den Atelier) ist bereits Mitglied im Verwaltungsrat des Mudam und hat dort nach dem Rücktritt von Enrico Lunghi das Museum interimistisch geleitet. Staatsminister Bettel bezeichnet ihn als „Freund“, Loschetter nennt sich selbst „Vertrauensmann des Premiers“. Die Medien wittern ein politisches Manöver. Auch Franck und Oppel schreiben in ihrer Medienchronik, dass Loschetter eingesetzt wurde, um Hoffmann zu kontrollieren. Loschetter selbst will diese Vorwürfe bis heute nicht kommentieren.

Tatsächlich soll das Verhältnis zwischen Loschetter und Hoffmann nicht das beste gewesen sein. Loschetter soll von den Ideen Hoffmans wenig begeistert gewesen sein, Hoffmann vom Führungsstil Loschetters ebenso wenig. Vertrauten zufolge konnten beide Alphatiere schlichtweg nicht miteinander.

Und nach etwas mehr als einem Jahr zog Hoffmann die Reißleine und trat zurück. Der scheidende Direktor, der noch bis zum 15. Dezember im Amt ist, will sich bis heute nicht offiziell zu den Gründen seines Rücktritts äußern und gab lediglich gegenüber RTL den Hinweis, dass man sich nicht zurückziehe, wenn es am schönsten sei.

Self-fulfilling prophecy

Doch die Gründe für seinen Rücktritt lassen sich finden. Hoffmann hat sie bereits ganz klar formuliert und der Öffentlichkeit mitgeteilt. Allerdings nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Vor mehr als 25 Jahren, kurz nachdem das Mediengesetz zur Gründung von Radio 100,7 verabschiedet wurde, erschien ein Artikel mit dem Titel „Unter staatlicher Fuchtel?“ in der Wochenzeitung d’Land. Darin geht die Rede von der Schaffung eines „Staatssenders“. Das Mediengesetz „schafft nämlich ein Korsett, das der Regierung im Allgemeinen und dem Medienminister im Besonderen eine weitgehende Kontrolle über den Sender ermöglichen soll“. Die Kompetenzen des „mächtigen Verwaltungsrats“ würden „den Direktor der öffentlich-rechtlichen Anstalt in den Rang eines ausführenden Organs zurückstufen“. Und mehr noch: „Vieles wird von der Persönlichkeit und vom Durchsetzungsvermögen des Leiters der Sendeanstalt abhängen.“ Der Artikel ist mit dem Akronym j.p.h. unterzeichnet – Jean-Paul Hoffmann.

Es sind erstaunliche Worte. Nicht nur stehen sie in einer Kontinuität zum Gutachten der EBU sowie der Medienchronik von Oppel und Franck, sondern zeichnen das Scheitern eines Direktors geradezu vor. Ob Hoffmann auch heute noch hinter dieser Analyse steht und sein eigenes Schicksal vorhergesehen hat, will er nicht kommentieren.

Der Übergang

Wie geht es jetzt weiter? Xavier Bettel will sich angesichts der Koalitionsgespräche nicht näher über Radio 100,7 äußern und lehnt ein Interview ab. Allerdings hat er bereits in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage eine Überarbeitung der Gouverance in Aussicht gestellt. Als Interimsdirektorin ist Nancy Braun vergangene Woche bestimmt worden. Sie ist gleichzeitig Leiterin des Projektes Esch 2022 und besitzt als ehemalige DP-Generalkoordinatorin eine politische Vergangenheit in der Partei von Xavier Bettel. Laut Loschetter war ihre Wahl eine einvernehmliche Entscheidung. Loschetter selbst habe aus beruflichen Gründen auf sein Recht, das Interim zu übernehmen, verzichtet, weil er Anfang Januar drei Wochen nicht in Luxemburg weilt. Dass er Braun vorgeschlagen hat, wie es dem Vernehmen nach lautet, streitet er ab.

Und die Chefredaktion? Für beide riskiert die kritische Medienchronik ein Nachspiel zu haben. Auf der Tagesordnung des Verwaltungsrats stand vergangene Woche als separater Punkt „Tribune libre de JCL Franck et Pia Oppel et les suites à y donner“. Loschetter bestätigt, dass er diesen Punkt auf die Tagesordnung gesetzt hat. „Wir haben aber einvernehmlich beschlossen, dass wir uns in redaktionelle Inhalte nicht einmischen“, so Loschetter. Dennoch wundert sich der Vorsitzende, warum solche Interna an die Öffentlichkeit gelangen: „Es scheint gerade in Mode zu sein, Geheimnisse nach außen zu tragen, aber das wird sich auch wieder ändern.“

Die Geschichte könnte hier enden. Doch jenseits der Frage der Gouverance und unterhalb der Führungsriege spielt sich ein anderer Konflikt ab. Ein Konflikt, der sich mit der Frage der Unabhängigkeit überschneidet.

Es ist noch nichts entschieden

Denn längst nicht alle Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Senders sind mit der Medienchronik der Chefredaktion einverstanden. Offen reden will niemand. Aber unter vorgehaltener Hand werden sowohl Zeitpunkt als auch Vorgehensweise der Chefredaktion infrage gestellt. Warum wird 100,7 kurz vor den Wahlen zu einem Politikum gemacht? Warum erzwingt die 100,7-Chefredaktion eine öffentliche Debatte über den Status des Senders? Manche äußern gar den Verdacht, dass die Chefredaktion selbst den öffentlich-rechtlichen Sender übernehmen will. Auf Nachfrage dementiert Franck jedoch in aller Deutlichkeit, dass er am Posten des Direktors interessiert sei.

Während allerdings von der Chefredaktion der „Vertrauensmann des Premiers“ infrage gestellt wird, wird von manchen Mitarbeitern die Personalie Hofmann infrage gestellt. Unter Hoffmann habe sich das Radio zwar professionalisiert, aber auf Kosten des Arbeitsklimas. 17 Mitarbeiter sind zurückgetreten – nicht alle aufgrund des Direktors, aber doch die Mehrzahl. Zudem sollen lange Zeit prekäre Arbeitsbedingung bei 100,7 geherrscht haben: Freischaffende Journalisten in Scheinselbstständigkeit sowie Journalisten mit befristeten Verträgen. Kurz: ein klassischer Sozialkonflikt, bei dem es nicht um journalistische Ethik geht, sondern um Arbeitsrecht.

Und diesem Narrativ zufolge sei Loschetter nicht von Bettel nominiert worden, um den Sender politisch zu kontrollieren, sondern um die internen Spannungen zu lösen. Tatsächlich sind seit Loschetter mehr Mitarbeiter in unbefristeten Verträgen, die Lage habe sich vorerst beruhigt.

Der Machtkampf um Radio 100,7 ist demnach nicht entschieden. Mit der Interimslösung kehrt vorerst Ruhe ein. Aber spätestens mit der Nominierung des neuen Direktors werden die Konfliktlinien des öffentlich-rechtlichen Radios wieder zutage treten.