Street Photography FestivalVom Leben ins Bild:  Freude am Fotografieren in den Rotondes

Street Photography Festival / Vom Leben ins Bild:  Freude am Fotografieren in den Rotondes
Benita Suchodrev lichtete die Berliner Partyszene ab Foto: Christian Schaack

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Als heiß erwarteter Lichtblick in diesen dunklen Zeiten fand übers für viele verlängerte Wochenende die fünfte Auflage dieses Treffen statt. Rund ums Bild hatte sich hiermit das Kollektiv „Street Photography Luxembourg“ viel vorgenommen und lud mit vielen guten Ideen in die Rotondes ein. 

Ein recht fachkundiges und alle Generationen erfassendes Publikum hatte sich zahlreich eingefunden. Eine entspannte Atmosphäre prägte das Ereignis, sodass man eigentlich nur angenehme Momente erleben durfte. Paul Bintner, Präsident von „Street Photography Luxembourg“, spricht in diesem Fall „von einem ganzen Jahr Vorbereitungszeit, damit den Leuten diese Kunstform gezielt nähergebracht werden soll. Obwohl unsere Disziplin schon sehr viele Anhänger zählt, gilt sie dennoch in puncto breites Publikum als eher unbekannt. Genau dies soll ein solches Festival verändern: Unsere Kunst soll beliebter werden und insbesondere sollten unsere politischen Instanzen sie auch als wahre Kunstform akzeptieren. Wir sind den Rotondes ungemein dankbar, doch sehr viele andere Entscheidungsträger betrachten die Street Photography immer noch als eine minderwertige Kunstgattung.“

Um dieses Ziel zu erreichen, griffen die Organisatoren auf mehrere Elemente zurück. So gab es dieses Jahr wiederum die Open Wall, eine Ausstellungsfläche, auf der jeder Besucher zwanglos seine ausgewählten Bilder anheften kann. Die Wahl der beliebtesten Aufnahme fiel dieses Mal verdienterweise auf Samantha Wilwert. Nebenbei sei bemerkt, dass die Bilder insgesamt mit viel Qualität auftrumpften und kaum an Vielfalt oder unterschiedlichen Herangehensweisen zu übertreffen waren. Daneben bot sich dem Besucher eine sehr abwechslungsreiche Ausstellung mit Werken von zehn eingeladenen Fotografen und Bildern von 13 Mitgliedern des Kollektivs.

Die Zahl der ausgestellten Fotos, deren Größe mitsamt den Bildpräsentationen waren jedem Fotografen frei gestellt. Das Resultat ist wiederum äußerst inspirierend, da diese Mischung Quantum von Ideen und Vorgehensweisen aufzeigt. Besonders der Austausch mit dem Collateral Eyes Kollektiv aus Frankfurt vertieft den Anspruch, die Street Photography sogar über die Grenzen hinweg zu zeigen. Ein rhythmischer Augenschmaus war diese Ausstellung auf jeden Fall, auch wenn einige Künstler weniger kohärente Selektionen zeigten als andere.

Als eigentliches Highlight galt dieses Jahr wiederum die Einladung von drei bedeutenden Namen der Fotografie. Neben einer wahren Legende wie Jane Evelyn Atwood kamen so zusätzlich Benita Suchodrev und Giacomo Sini zu Ehren. Diese Auswahl hätte rückblickend komplementärer und abwechslungsreicher nicht sein können. So sei einleitend betont, dass alle drei eher zufällig der Fotografie verfallen sind. Angefangen mit Giacomo Sini, einem italienischen Reportage- und Kriegsfotografen, insbesondere vom Syrienkonflikt. Eigenen Aussagen nach fotografiert er während einer Reportage 70 Prozent der Zeit überhaupt nicht. Eher geht es ihm darum, den Moment inmitten seiner Mitmenschen bewusst zu erleben. Es handelt sich um einen puren Humanisten, den alle Arten von tragischen Menschenschicksalen unweigerlich anziehen. Dabei teilt er sämtliche Erlebnisse mit seinen Weggefährten, und das rund um die Uhr: Kriegsgeschehen, Flüchtlingslose, Familiengeschicke, Überlebenskämpfe sowie Einwanderungsprozesse in seinem Heimatland gehören unter anderem dazu.

Doch immer steht der menschliche Bezug im Mittelpunkt. Sinis Bestreben ist es, dem Betrachter Sachverhalte nur aus einem humanen Blickwinkel zu zeigen. Seine Bilder sind verständlicherweise diskret und zurückhaltend. Es sind aus der Distanz aufgenommene Fakten, prüde Momente voller Ruhe. Überaus respektvolle Dokumente aus denen verhaltene Botschaften hervortreten. Hier gibt es keine reißerische Bluttaten, keine extremen Gesichtsausdrücke, keine visuellen Schockmomente. Hier spricht Kriegsfotografie der seltenen Art: menschliche Zustände ohne Pathos und Effekte! So lobenswert die Vorgehensweise Sinis auch verbleibt, diesen untypischen Abbildern fehlt es im Endeffekt doch etwas an Aussagekraft. Denn ohne Legenden kann man die Aufnahmen kaum genau deuten.

Die dargestellten Momente teilen sich oft visuell nicht ausreichend verständlich mit. Dabei ist nicht das gewollt fehlende Spektakuläre schuld daran, sondern eher ein allzu oft präsenter statischer Augenblick dem Besonderes fehlt. Viele Bilder wirken zu allerweltshaft, zu stark aus der Distanz betrachtet, um den dargestellten Schicksalsmomenten wirklich gerecht zu werden. Sinis äußerst ehrliche Vorgehensweise ergibt somit teilweise Bilder, denen es manchmal an Leben fehlt. Jane Evelyn Atwood begeistert hingegen mit durchwegs ergreifenden Bildern. Ihre Reportagen sind wiederum zutiefst humanistisch angehaucht und drehen sich eher um gesellschaftliche Aspekte. Angefangen hat Atwood mit einer Studie des Pariser Prostituiertenmilieus Mitte der 70er Jahre, ehe sie die letzten vier Monate im Leben eines Aidskranken dokumentierte.

Des Weiteren veranschaulichte sie in 40 verschiedenen Ländern über zehn Jahre hinweg die Lebensbedingungen von inhaftierten Frauen, die Lebensumstände von Blinden oder die Zustände in Haiti vor und nach dem großen Erdbeben. Bei jeder ihrer Arbeiten behandelt sie alle wichtigen Aspekte bis ins letzte Detail und beendet ihr Handeln nur, wenn sie das Gefühl hat, alles festgehalten zu haben. Mit wunderbarer Stimme erläuterte Atwood die Begleitumstände ihrer Bilder schonungslos, ohne jemals mitleidig zu werden. Ganz im Gegenteil: Politische Forderungen, gesellschaftliche Überlegungen und humanistische Forderungen prägten ihre Darstellungen immer wieder. So zeigte sich Atwood auch heute noch zutiefst vom Schicksal Jean-Louis’, ihrem aidskranken Freund, betroffen. Eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit, die keine eingegangene menschliche Bindung jemals vergessen wird. Alle von ihr erlebten Emotionen finden sich logischerweise ungefiltert in ihren Werken wieder. Es ist diese Qualität, die ihr Schaffen so unglaublich berührend und ausdrucksstark gestaltet. Ein unvergesslicher Moment, Miss Atwood!

Mit einer total verschiedenen Vorgehensweise trumpfte hingegen die darauffolgende Benita Suchodrev auf. In ihrer Anfangsarbeit hält sie die Berliner Partyszene in spektakulären Bildern fest. Dabei sind die abgelichteten Wesen schon sehr dankbare Sujets an sich: schrille Outfits, drogengestärkte Auftritte, extravertierte Körpersprachen und eitle Scheitel, die sich gerne abgelichtet sehen. Viel interessanter und tiefgehender sind hingegen die Fotos der Blackpool Serie. Hier zeigt Suchodrev ehrliches Interesse an den Opfern des ultraliberalen Kapitalismus Großbritanniens. Zahllose gestrandete Existenzen, zahnlose Working-Class-Porträts, vom Schicksal geprägte Individuen und verlorene Gestalten stehen im Mittelpunkt. Noch bewegender sind die Bilder Of Lions and Lambs. Entstanden sind Letztere während eines zweiten Aufenthalts in einem ausgestorbenen winterlichen Blackpool. Hier gibt es eine ergreifende Nähe zu den ausgeschlossenen Working-Class-Menschen, da Suchodrev mit etlichen Schicksalswesen respektvolle und ehrliche Beziehungen einging. Diese ermöglichten das Festhalten von äußerst intimen und aufrichtigen Eindrücken. Die dargestellten Personen schenken Suchodrev ihr Erlebtes vor klickender Kamera. Menschliche Misere, Not oder Prüfung werden zum Körper oder Antlitz. Gute soziale Fotografie geht so.

Es bleibt zu hoffen, dass die Künstlerin fortwährend eine ähnliche Herangehensweise vorziehen wird. Zudem könnte das Verwenden einer offenen Blende den dargestellten Wesen passendere Sanftheit verleihen, ohne den Hintergrund zu betonen. Abschließend bleibt zu unterstreichen, dass während dieses Festivals die Freude am Fotografieren großgeschrieben wurde. Bintner gibt sich demnach mit insgesamt 1.000 Besuchern auch äußerst zufrieden. Ein Aufruf an die politischen Entscheidungsträger wurde hier auf jeden Fall klar: Keine andere Disziplin bringt Künstler und Bürger so vielschichtig und systematisch zusammen. Zwischenmenschlicher Austausch auf allen Ebenen und treffliche soziale Aussagen geben sich die Hand wie bei kaum einer anderen Kunstart. Hier gibt es keine kreativen Geister, die sich im Atelier von der Gesellschaft isolieren.

Street Photography findet auf der Straße statt, inmitten der Gesellschaft, im Herzen der Menschheit. Eine Maxime wie „Ergreift eure Kameras und raus auf die Straße“ wurde von diesem Festival jedenfalls gebührend markiert.