FeatureUngarns Schicksalswahl im Schatten des Krieges

Feature / Ungarns Schicksalswahl im Schatten des Krieges
Der Krieg überschattet den Stimmenstreit. Putin-Verbotsschild auf dem Antlitz von Premier Orban. Foto: Thomas Roser

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Bei Ungarns Schicksalswahl am kommenden Sonntag könnte der Ukraine-Krieg ausgerechnet Putin-Freund Viktor Orban in die Karten spielen. Doch obwohl seine Fidesz-Partei in den Umfragen führt, ist das Rennen noch nicht entschieden. Viele Wähler sind unentschlossen, die Preise steigen – und es mehrt sich die Kritik an Orban.

In der Ferne schnattern die Gänse. Gewichtig wackeln zwei aufgeplusterte Puten in der Nachmittagssonne über die Dorfstraße im ungarischen Szekkutas. Von Hand kurbelt der mit Tattoos übersäte Bahnhofswärter die Schranke herunter. Nein, zu der Wahlveranstaltung werde er nicht kommen, sagt der freundliche Gleishüter mit einem Achselzucken: „Ich muss arbeiten. Gleich kommt der Fünf-Uhr-Zug.“

Auf der Scheune thront ein verwaistes Storchennest. In den aufblühenden Hecken zwitschern und zirpen vielstimmig die Vögel. Die Zeit scheint stehen geblieben im früheren Hodmezövasarhelykutasipuszta. Liselotte Pulver hatte dem verschlafenen Dorf in dem allerdings im nahen Serbien gedrehten Erfolgsfilm „Ich denke oft an Piroschka“ einst ein filmisches Denkmal gesetzt. Doch statt entspannter Puszta-Romantik ist in der Dorfkneipe „Autos Casrda“ hektische Wahlkampfstimmung angesagt.

Betagte Wahlhelferinnen bestücken das Buffet mit Apfelstrudel. Ihre jüngeren Kollegen installieren vor dem Wirtshaus die Flaggen mit dem Antlitz des Oppositionskandidaten. „An manchen Tagen bin ich zuversichtlich, dass wir es schaffen, an anderen zweifle ich“, berichtet ein bärtiger junger Mann: „Nur wenn die Wahlbeteiligung hoch liegt, wird die Opposition gewinnen können.“

Stimmenstreit in einem tief geteilten Land

Wahlkampf in Ungarn, Stimmenstreit in einem tief geteilten Land. Premier Viktor Orban und seine Fidesz-Partei nutzten den Ukraine-Krieg für ihre „eigenen Wahlzwecke“, klagt vor der am Sonntag steigenden Parlamentswahl der oppositionelle Wahlhelfer im Karo-Hemd: „Fidesz kontrolliert die Medien, verfügt über eine ungeheure Propaganda-Maschine – und viel Geld.“ Nur in den Städten könne sich die Opposition Gehör verschaffen: „Auf dem Land und in Dörfern wie Szekkutas gibt es oft keine andere Informationsquelle als die regierungsnahen Medien.“

Peter Marki-Zay will Viktor Orban ablösen
Peter Marki-Zay will Viktor Orban ablösen Foto: AFP/Ferenc Isza

Der Andrang übertrifft die Zahl der Plätze: Geschäftiges Stühlerücken ist im Hinterzimmer der „Autos Csarda“ angesagt. Frenetischer Beifall der rund 150 Dorfbewohner brandet auf, als der Mann mit der blauen Schleife auf dem Revers sich endlich händeschüttelnd den Weg zum Rednerpult bahnt. „Wir können einen Brandstifter nicht mit dem Löschen von Bränden beauftragen und einem Dieb nicht unseren Wohlstand anvertrauen“, so die Botschaft von Peter Marki-Zay, dem Spitzenkandidaten des aus sechs Parteien bestehenden Oppositionsbündnisses „Vereint für Ungarn“: „Alle Probleme, die wir zu lösen haben, hat Viktor Orban verursacht.“ Die NATO und die EU seien die einzigen, die Ungarn bei einem Angriff schützen könnten: „Ganz egal, was für Lügen Orban erzählt.“

Viktor, wissen Sie, was in Mariupol passiert? Sie sollten entscheiden, für wen Sie sind.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selesnkyj in einer Videobotschaft an Ungarns Premier Viktor Orban

Der Krieg in der benachbarten Ukraine überschattet den Stimmenstreit. Selbst seine langjährigen Verbündeten rücken von Orban wegen seiner Nähe zu Putin ab. Angesichts der russischen Aggression in der Ukraine und des Todes von tausenden von Zivilisten sei es für ihn „sehr schwierig“, die Haltung von Orban noch zu verstehen, bekannte Polens Präsident Andrzej Duda am Wochenende: „Diese Politik wird Ungarn teuer bezahlen, sehr teuer.“ Noch deutlicher drückt sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selesnkyj aus: „Viktor, wissen Sie, was in Mariupol passiert? Sie sollten entscheiden, für wen Sie sind.“

Obwohl Orban wegen seiner strikten Ablehnung der Ausweitung der EU-Sanktionen international ein stets schärferer Wind entgegenbläst, könnte der Putin-Freund bei den Wahlen paradoxerweise von Putins Krieg profitieren. „Wir sind keine Ukrainer. Wir sind keine Russen. Wir sind Ungarn und stehen auf der Seite Ungarns, auf der Seite des Friedens“, argumentiert Orban. Sein Land wolle sich „nicht in den Krieg ziehen lassen“, weil dies im Gegensatz zu den nationalen Interessen stehe. Die Sanktionen gegen Russland würden die EU härter als die Adressaten treffen, so seine Warnung: Wenn die Sanktionen auch auf den Energiesektor ausgeweitet würden, drohe Ungarns Wirtschaft unter „unerträglichen Druck“ zu geraten.

Seit Kriegsbeginn baut Orban seinen Vorsprung aus

„Frieden und Stabilität“ lautet das neue Wahlkampfmotto von Orban, das zumindest bei seiner Wählerklientel zu verfangen scheint: Seit Kriegsausbruch hat Fidesz seinen zu Jahresbeginn noch sehr knappen Umfragevorsprung bei allen Meinungsforschungsinstituten spürbar ausgebaut. Doch die Zahl der unentschlossenen Wähler ist groß. Und mit jedem Kriegstag sind die Folgen des Waffengangs in der Ukraine auch in Ungarn in Form explodierender Preise immer stärker zu spüren: Gelaufen ist das Wahlrennen noch keineswegs.

„Orban betrügt die EU und die NATO schon seit zwölf Jahren“, wettert sein 49-jähriger Herausforderer Marki-Zay in der Dorfkneipe von Szekkutas: „Glaubt ihm nicht, dass er Ungarn verteidigen kann. Er hat genau getan, was Putin ihm gesagt hat.“ Dass der Fidesz-Chef nun mit der EU und NATO kooperiere, habe nur mit seinen „ernsthaften Finanzproblemen“ zu tun: „Obwohl er sagt, gegen die Sanktionen zu sein, hat er dafür gestimmt. Er stimmt jetzt für alles, weil er von der EU das Geld benötigt.“

Die EU sei bereit, Ungarn bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems zu helfen, versichert der siebenfache Familienvater. Doch die EU wolle europäische Steuergelder nicht mehr einem „Dieb“ anvertrauen, der diese unter seinen Angehörigen und Freunden verteile: „Die EU-Gelder werden nur in voller Höhe zu uns gelangen, wenn Orban geht.“

Die Pro-Orban-Demo am 15. März in Budapest stand unter dem Zeichen von „Frieden und Stabilität“
Die Pro-Orban-Demo am 15. März in Budapest stand unter dem Zeichen von „Frieden und Stabilität“ Foto: AFP/Frenec Isza

Die Opposition wolle ungarische Truppen in die Ukraine schicken, behaupten derweil die regierungsnahen Medien. Ungarn dürfe „nicht zwischen den ukrainischen Amboss und den russischen Hammer geraten“, warnt Orban. Seine Botschaften finden auch in Szekuttas Gehör. Sie wolle nicht, „dass mein Sohn und meine Enkel in die Ukraine in den Krieg geschickt werden“, sagt vor der Dorfkneipe eine etwas verwirrte ältere Frau, die Fotos ihrer Angehörigen zeigt. Ein Putin-Verbotsschild prangt auf dem Antlitz des grinsenden Premiers, das den Wahlkampf-Minibus seines Herausforderers ziert: „Orban lügt“ – so die darunter stehende Botschaft.

Noch einmal schüttelt der hochgewachsene Kandidat die Hände. Dann braust er in der einsetzenden Abenddämmerung in einer schwarzen Limousine zum nächsten Termin. Zumindest der Sieg in seinem Wahlkreis im Distrikt Csongrad sei Marki-Zay mittlerweile „sicher“, ist sein regionaler Wahlkoordinator Ferenc Csanadi überzeugt: „Ob uns der Wahlsieg auch im ganzen Land gelingt, werden wir sehen.“

Ungarns Wahlsystem: Opposition will Fidesz mit eigener Waffe schlagen

Als Außenseiter hofft Peter Marki-Zay Ungarns favorisierten Platzhirsch Viktor Orban auch mit der Waffe des auf Fidesz zugeschnittenen Wahlsystems zu schlagen. Das seit 2011 gültige Wahlsystem ist eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahl: Mit der von ihm forcierten Wahlrechtsreform wollte Orban seiner Partei dauerhaft den Machterhalt sichern. Nur 93 von 199 Abgeordnetensitzen werden nach den Stimmanteilen der Parteien vergeben. Die 106 Direktmandate gehen an die stärkste Partei in den jeweiligen Wahlkreisen.
Von dem System profitiert klar die größte Partei: Obwohl Fidesz bei der Wahl 2018 mit 49,3 Prozent die Stimmen-Mehrheit verfehlte, fuhr die Regierungspartei Zweidrittel der Parlamentssitze ein. Es war der parteilose, von mehreren Oppositionsparteien unterstützte Marki-Zay, der 2018 mit seiner Wahl zum Bürgermeister von Hodmezövasarhely einen erfolgreichen Weg aus Orbans Wahlzwickmühle wies. Das in der Provinz erprobte Erfolgsrezept wiederholte die Opposition in der Hauptstadt: Mit Unterstützung aller Oppositionsparteien von der rechtsnationalen Jobbik bis hin zu den Sozialisten luchste der grünalternative Gergely Karacsony 2019 Fidesz das Rathaus in Budapest ab.
Auch bei der Parlamentswahl hofft die Opposition, mithilfe ihres gemeinsamen Zweckbündnisses die Vorherrschaft von Fidesz endlich zu brechen. Sechs Oppositionsparteien traten im letzten Jahr bei den landesweiten Vorwahlen an, bei denen nicht nur die jeweils aussichtsreichsten Kandidaten in den 106 Wahlkreisen, sondern auch der gemeinsame Spitzenkandidat gekürt wurde: Nach dem Rückzug von Favorit Karacsony setzte sich der parteilose Konservative Marki-Zay auch ohne eigene Hausmacht etwas überraschend gegen die linke Europaabgeordnete Karla Dobrev (DK) durch.