HintergrundSchwierige Zeiten für die Ukraine

Hintergrund / Schwierige Zeiten für die Ukraine
Ein ukrainischer Soldat trauert um gefallene Kollegen: Der Ukraine steht ein weiterer harter Winter bevor AFP/Sergej Supinsky

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Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem Krieg Israels gegen die Hamas im Gazastreifen bekommt der Krieg in der Ukraine merklich weniger internationale Aufmerksamkeit. Dabei könnte er in eine entscheidende Phase eintreten.

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas hat den Krieg in der Ukraine aus der Öffentlichkeit verdrängt. Das spielt vor allem Moskau in die Hände. Die Ukraine ist weiterhin auf westliche Unterstützung angewiesen. Sonst hat sie gegen Russland keine Chance und bricht auseinander. Doch die Kriegsmüdigkeit nimmt zu. Vor allem in den USA. Die Ukraine steht demnach vor einem zweiten harten Winter – und Kiews Schicksal dürfte immer mehr in Europas Händen liegen. Doch wo steht die Ukraine vor dem zweiten Kriegswinter und wie sieht es an der Front aus? Wie steht es um die westliche Unterstützung und wie lief die Gegenoffensive? Ein Überblick.

Die Gegenoffensive

Nach rund 160 Tagen ukrainischer Gegenoffensive muss ein ernüchterndes Fazit gezogen werden. Das tat auch der ukrainische Oberbefehlshaber Walery Saluschny Anfang des Monats in einem Interview mit dem Economist. Der ranghöchste Militärvertreter der Ukraine sagte da, die Konfliktparteien würden sich entlang der Frontlinie einen Abnutzungs- und Stellungskrieg liefern. „Wie im Ersten Weltkrieg haben wir ein technologisches Niveau erreicht, das uns in eine Pattsituation bringt“, sagte der General. Es werde „sehr wahrscheinlich“ keinen „tiefen“ Durchbruch geben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj widersprach seinem General umgehend. In russischen Telegram-Kanälen kursierten daraufhin täuschend echt aussehende Deep-Fake-Videos, in denen ein computeranimierter Saluschny zum Putsch gegen Selenskyj aufruft.

Der österreichische Oberst und Militärexperte Markus Reisner beschrieb die Situation am Freitag auf einem Sicherheitsforum in Wien als „sehr ernst“. Der Westen würde sich den Krieg in der Ukraine „schönreden“, die Gegenoffensive sei „fehlgeschlagen“. Es sei jetzt an den westlichen Staaten, die Ukraine auf das kommende Jahr und die nächste Gegenoffensive vorzubereiten. „Es ist an der Zeit, dass wir Europäer verstehen, dass es an uns liegt, dass wir den Unterschied machen müssen“, sagte Reisner in der Expertenrunde. Die Ukraine sei dabei, fünf neue Brigaden aufzubauen, wofür es aber mindestens 150 Panzer bräuchte sowie 200 bis 300 Artilleriegeschütze, die schnell geliefert werden müssten. Der im September in Pension gegangene US-Topgeneral Mark Milley sagte im selben Monat: „Es ist noch nicht vorbei, es wird noch viel Zeit brauchen.“

Ein Bild aus Awdijiwka, einer weiteren völlig zerstörten ukrainischen Stadt
Ein Bild aus Awdijiwka, einer weiteren völlig zerstörten ukrainischen Stadt AFP

An der Front konnte die Ukraine einige kleine Erfolge erzielen und einzelne Ortschaften einnehmen, oft war es aber nur ein verlustreicher Kampf Meter um Meter. Der Ukraine gelangen Schläge gegen die Russen in dieser Zeit vor allem mit Angriffen auf deren Schwarzmeerflotte, wo immer wieder Treffer vermeldet werden. Ein Hauptziel der Gegenoffensive, die am 4. Juni begann, war aber der Durchbruch bis ans Asowsche Meer. So wäre die Landverbindung der Krim in Reichweite der ukrainischen Artillerie gekommen und zudem wären die russischen Truppen voneinander getrennt worden, wodurch deren Versorgung gekappt werden sollte.
Dieser große Durchbruch blieb aus, daran änderten auch die westlichen Waffen wie die Leopard-Panzer nichts. Grund hierfür ist Reisner zufolge vor allem die mangelnde Ausstattung der Ukraine mit Luftabwehrsystemen. Die Ukraine setze diese insbesondere in und um Städte ein, um Zivilisten und zivile Infrastruktur zu schützen. Dafür fehle sie an der Front und in dem Gelände hinter der Front, das zur Bereitstellung von Militärmaterial gebraucht werde.

Hinzu kommt, dass auch Russland weiter in die Offensive geht. So droht die Stadt Awdijiwka, die seit Beginn des Konflikts im Osten der Ukraine mit von Russland unterstützten Separatisten im Jahr 2014 umkämpft ist, die Einnahme durch Moskaus Truppen. Russland, das bislang die unfassbare Zahl von annähernd 6.000 Marschflugkörpern auf die Ukraine feuerte, hat zudem mit der nächsten strategischen Luftangriffskampagne gegen die ukrainische Energieinfrastruktur begonnen. Dieser Beschuss dürfte sich die kommenden Monate intensivieren und die Ukraine einem zweiten harten Kriegswinter aussetzen. Auch die Angriffe auf die Häfen rund um die Stadt Odessa nehmen nicht ab. So hat Russland am Mittwoch in der südukrainischen Region erstmals ein ziviles Frachtschiff mit einer Rakete getroffen und dabei einen ukrainischen Lotsen an Bord getötet.

Der Westen

Die Unterstützung bröckelt. Auch wenn das meist noch nicht in den Worten der Politiker widerhallt, zumindest bei jenen aus Europa nicht. Bei den Amerikanern sieht die Sache schon anders aus. Inzwischen sprechen sich nicht nur Republikaner, sondern auch Demokraten, wenn auch noch verhalten, für weniger militärische Unterstützung für die Ukraine aus. Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen drehen sich die USA hauptsächlich um sich selbst. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung weitere Hilfen für die Ukraine inzwischen mehrheitlich ablehnt. Auch US-Medien wie die Washington Post haben ihren Ton merklich gedreht und berichten kritischer über die Ukraine.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hält es mittlerweile für „höchstwahrscheinlich“, wie er am Samstag beim Kongress der europäischen Sozialisten in Malaga sagte, dass die Unterstützung der Amerikaner nachlassen wird und die Europäer für die Amerikaner in die Bresche springen müssen, wenn sie nicht wollen, dass die Ukraine auseinanderbricht. Zudem gebe es keine „sofortige“ Aussicht auf einen Sieg der Ukraine. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am Freitag gegenüber der Deutschen Presseagentur: „Wir müssen auf die Langstrecke vorbereitet sein.“ Kriege seien „ihrem Wesen nach nicht vorhersagbar“. Nur militärische Unterstützung könne erreichen, dass die Ukraine als souveräner und demokratischer Staat erhalten bleibe. Nur diese werde den russischen Präsidenten Wladimir Putin überzeugen, dass er nicht auf dem Schlachtfeld gewinnen könne.

Selenskyj und Biden im September: Wie lange hält die US-Unterstützung noch an? 
Selenskyj und Biden im September: Wie lange hält die US-Unterstützung noch an?  Foto: dpa/Evan Vucci

Falls die Unterstützung durch die Amerikaner nachlassen sollte, müssten wohl vor allem Deutschland, Großbritannien und auch Frankreich, das bislang verhältnismäßig wenig Militärmaterial in die Ukraine schickte, diese Unterstützung leisten. Dafür müsste allerdings die Produktion an Militärgütern in Europa hochgefahren werden. Schichtbetrieb in der Rüstungsindustrie wäre zwar noch keine Kriegswirtschaft, aber trotzdem eine weitere Kraftanstrengung für eine schwächelnde Wirtschaft.

Zudem gibt es mit dem neuen slowakischen Premier Robert Fico neben Ungarns Viktor Orbán einen zweiten Regierungschef in der EU, der verstärkt pro-russisch handelt. In einer seiner ersten Amtshandlungen stoppte Fico vergangene Woche die geplante Lieferung von Artillerie, Flugabwehr, Mörsern und Minen. Was die europäischen Unterstützer der Ukraine anbelangt, folgten den Worten bislang auch nicht immer Taten. Europa hatte Kiew eine Million Artilleriegranaten versprochen. Geliefert wurden bislang gerade einmal 300.000.

Hoffen auf die „Wunderwaffe“

Im Economist sprach der ukrainische Oberbefehlshaber Walery Saluschny auch darüber, was es bräuchte, um den Kurs der Dinge zugunsten der Ukraine zu ändern und hoffte dabei auf eine Art „Wunderwaffe“. Die Waffe, die den Krieg in der Ukraine so prägt, wie sonst keinen Krieg zuvor, ist dabei die Drohne. Zu Kriegsbeginn verschafften die unbenannten und ferngesteuerten Fluggeräte der Ukraine Vorteile. Doch Russland hat längst aufgeholt, sei es durch Importe aus Iran oder durch das Hochfahren der eigenen Produktion.

Am gesamten Frontverlauf schwirren unentwegt Tausende Drohnen über den Soldaten. Militärexperte Markus Reisner spricht von einem „gläsernen Schlachtfeld“, in dem beide Seiten über die Bewegungen des jeweils anderen informiert sind und dementsprechend ebenfalls per Drohne zuschlagen können. Vor allem die sogenannte FPV-Drohne kommt so zu ihren Einsätzen. FPV steht für „First Person View“. Bei diesen Drohnen handelt es sich demnach um handelsübliche, aber angepasste Quadcopter, die von einem Soldaten, der über eine Brille oder einen Schirm mitschaut, gesteuert werden. Sie werden sowohl zu Aufklärungszwecken als auch, mit Sprengladungen bestückt, zu Angriffen genutzt, bei denen sie dann in Höchstgeschwindigkeit und mit größter Präzision auf ein Ziel gelenkt werden.

Ein ukrainischer Drohnen-Pilot im Einsatz: Die Drohnen dominieren inzwischen  das Schlachtfeld
Ein ukrainischer Drohnen-Pilot im Einsatz: Die Drohnen dominieren inzwischen  das Schlachtfeld Foto: AFP/Sergej Supinsky

Inzwischen ist der Kampf um die beste und modernste Drohne zu einem Wettlauf zwischen Kiew und Moskau geworden – genauso wie es zum Wettlauf geworden ist, wer die beste Drohnenabwehr auf die Beine stellen kann. Reisner spricht vom „Kampf um das elektromagnetische Feld“ und davon, dass die sogenannte elektronische Kampfführung mitunter kriegsentscheidend sein könnte – denn wer die Drohnen des anderen ausschalten und auf den Boden holen könne, erlange damit die Kontrolle über das Schlachtfeld. Aus ukrainischer Sicht ließen sich so auch die russischen Angriffe mit iranischen Shahed-Drohnen (vor allem auf Städte im Hinterland) oder russischen Lancet-Drohnen (vor allem auf gepanzerte Fahrzeuge an der Front) besser abwehren.

Auf dem Fluss Dnjepr, der eine Front darstellt und wo die Ukraine einen Erfolg mit einem Brückenkopf auf der Seite des Flusses hat, den Russland noch besetzt, griff Kiew zuletzt auf unbenannte Drohnen-Boote zurück, die mit Störgeräten ausgestattet die russischen Drohnen in dem Gebiet ausschalteten. General Saluschny, auf der Suche nach der „Wunderwaffe“, traf unlängst den ehemaligen CEO von Google, Eric Schmidt. Dabei soll es darum gegangen sein, gemeinsam zu schauen, welche technologische Entwicklungen von der Ukraine gebraucht werden. Das Stichwort lautet hier künstliche Intelligenz, die dabei helfen soll, möglichst schnell möglichst viele Daten über die Bewegungen jenseits der Front auszuwerten und zur Verfügung zu stellen – um schneller zuschlagen zu können.

Richard
14. November 2023 - 11.05

@ CG / Se kopéieren just den amerikaneschen Konzept während dem Vietnam Kriech.

rcz
13. November 2023 - 17.40

Die EU Außenminister haben die blaugelbe Anstecknadel durch den Davidstern ersetzt und beraten jetzt über die Lage in Nahost. Kommt die Ukraine jetzt auf das Abstellgleis?

Romain C.
13. November 2023 - 13.58

Die Ukrainische Elite ist längst in den Westen geflüchtet und wartet auf den großen Sieg!..

luxmann
13. November 2023 - 13.28

CG Ein typisches beispiel ist der ex botschafter und nun minister Melnik. Als botschafter hetzte er fuer immer mehr waffen...sein sohn studiert aber in der BRD und ruehrt keine waffe an. Der netanyahu filius lebt ja auch in den USA weit vom schuss.

CG
13. November 2023 - 11.43

Déi ukrainesch Elte léisst hir Kanner gewass un d'Front, genausou wéi d'Fussballspiller nëtt dehi mussen. Dem klengen Aarbechter an dem Bauer seng Kanner mussen d'Ukraine verdeedegen. Mistten déi aaner und d'Front wir de Selenskij schons laang nëtt mài um Rudder.

fraulein smilla
13. November 2023 - 7.52

Das Durschnittsalter der ukrainischen Frontkaempfer liegt bei 43 Jahren ,wobei das Gros seit 2014 im Einsatz ist . Die ukrainische maennliche Jeunesse Dorée feiert lieber Strandpartys ,als sich in der Armee zu engagieren . -Der Westen hat keine Angst vor einem Auseinanderbrechen der Ukraine , sondern im Fall einer russischen Niederlage ein Auseinanderbrechen der Russischen Foederation . Dann saessen wir definitif auf einem Pulverfass und deshalb ist ein ukrainischer Sieg nicht in seinem Intresse .