MedienberichtSchwere Vorwürfe gegen Goodyear: Sind Lkw-Reifen aus Luxemburg schuld an Unfallserie?

Medienbericht / Schwere Vorwürfe gegen Goodyear: Sind Lkw-Reifen aus Luxemburg schuld an Unfallserie?
Muss sich schwerer Vorwürfe erwehren: Der Goodyear-Standort in Colmar-Berg gilt als wichtiger Teil der luxemburgischen Industrielandschaft Foto: Editpress/Alain Rischard

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Schwere Anschuldigungen gegen Goodyear Luxemburg. Recherchen von „Le Monde“ zufolge sind Lkw-Reifen aus Luxemburg schuld an einer Unfallserie quer durch Europa in den Jahren 2012 bis 2014. Auch Behörden aus Luxemburg sind ins Visier der französischen Zeitung geraten.

Sind Zehntausende bei Goodyear in Luxemburg produzierte Lkw-Reifen verantwortlich für eine sich über mehrere Jahre erstreckende Serie an teils tödlichen Unfällen quer durch Europa? Und hat Goodyear, wissend um einen Konstruktionsfehler und so weitere Unfälle in Kauf nehmend, die Geschichte möglichst kleingehalten, um einen weltweiten Imageschaden abzuwenden? Hätten dazu in Luxemburg das Ilnas, das luxemburgische Institut für Normung, Zulassung, Sicherheit und Qualität von Produkten und Dienstleistungen, und die „Société nationale de certification et d’homologation“ (SNCH) anders reagieren müssen? Das sind die ungeheuerlichen Vorwürfe, die Le Monde in einer Recherche-Reihe erhebt (hier geht es zu Teil 1 und Teil 2).

Auf Tageblatt-Nachfrage hin will Goodyear Luxemburg eine Stellungnahme erst dann abgeben, wenn die Artikel-Reihe abgeschlossen ist. Beim Ilnas ist man sich auf Tageblatt-Nachfrage hin keines Fehlverhaltens bewusst. Von der SNCH, die die betreffenden Reifen damals homologiert hatte, heißt es, man habe bereits vor rund zwei Jahren eine Stellungnahme abgegeben, mehr könne man jetzt nicht sagen und verweist an das Ilnas.

„Zehntausende Reifen, zahlreiche Unfälle“

Doch was steht bislang in der Recherche von Le Monde? In ihrer Artikel-Reihe greift die französische Tageszeitung auf interne E-Mails zurück, zitiert aus geheimen Tabellen, und verdeckten Strategien. Diese Elemente, schreiben die französischen Journalisten, beziehen sich „insbesondere auf zahlreiche europäische Länder und dokumentieren einen weltweiten Skandal mit schwerwiegenden Folgen: Goodyear wird heute beschuldigt, die Öffentlichkeit nicht vor möglichen Produktionsfehlern bei mehreren zehntausend in Luxemburg hergestellten Reifen gewarnt zu haben, die in zahlreiche Unfälle verwickelt waren.“

Im Mittelpunkt der Unfallserie, die wohl im Jahr 2012 begann, steht der Goodyear-Reifen Marathon LHS II (später auch das Nachfolgemodell LHS II +), die beide in Colmar-Berg entwickelt und produziert wurden. Sehr früh stellen Ermittler Unregelmäßigkeiten bei der Konstruktion der besagten Reifen fest, die dazu führen könnten, dass die Marathon-Modelle platzen.

Die Unfallhergänge, die Le Monde aufarbeitet, ähneln einander auf frappierende Weise. Jedes Mal ist es der vordere linke Reifen, der explosionsartig platzt, den Fahrern keine Zeit zum Bremsen lässt und die Lkw wie führerlose Bomben in den Gegenverkehr rasen lässt. Spätestens 2013 würde sich der „Schatten des Zweifels“ über diese in Luxemburg hergestellten Goodyear-Reifen legen. In der Folgezeit verzichtet Goodyear auf eine europäische Rückholaktion und setzt ein freiwilliges Umtauschprogramm auf die Beine, erst in Spanien, später in anderen EU-Ländern.

Le Monde zufolge haben im Herbst 2013 mehrere Krisentreffen zwischen der luxemburgischen Ilnas und Goodyear stattgefunden. Goodyear führt die Unfälle in E-Mails, die Le Monde vorliegen, auf den heißen Sommer 2013 zurück und spricht von „besonderen Bedingungen“ und versuche so, laut Le Monde, das Inkrafttreten des unter dem Akronym Rapex (Rapid Exchange of Information System) bekannten Schnellwarnsystems zu vermeiden. Das Rapex ist ein von der Europäischen Union bereitgestelltes Instrument, um Verbraucher vor gesundheitlich bedenklichen Verbraucherprodukten schnell und wirkungsvoll zu schützen. Die Krisenkommunikation von Goodyear verlaufe damals erfolgreich in Luxemburg – der US-amerikanische Hersteller entgeht dem Schnellwarnsystem und kann so Schaden vom Unternehmen fernhalten. Die Unfallserie aber bricht nicht ab. Und ab 2014 werden Lkw-Hersteller wie Scania oder MAN zunehmend nervös und fordern Klarstellungen von Goodyear.

Le Monde schreibt auch vor einem „wichtigen Treffen“ im Oktober 2014 zwischen einem luxemburgischen Goodyear-Manager und dem damaligen Leiter der Abteilung Marktüberwachung des Ilnas. Schließlich stammten, so Le Monde, die strittigen Reifen alle aus dem Goodyear-Werk in Luxemburg. Das Protokoll, das den französischen Journalisten vorliegt, sei als „vertraulich“ gekennzeichnet. Der Goodyear-Vertreter habe darin kaum „beruhigende Informationen“ mitgeteilt. So seien bis Mitte Oktober 2014 nur „50% des Volumens der verdächtigen Reifen“ vom Markt genommen worden. Dabei hätte die vom Reifenhersteller angebotene Rückholaktion bereits Ende Juli 2014 desselben Jahres enden sollen.

Ilnas habe die Rückholaktion damals trotzdem als „wirksam“ eingestuft. In dem Protokoll werde auch erwähnt, dass Goodyear zu diesem Zeitpunkt insgesamt 107 Vorfälle mit dem Reifen Goodyear Marathon LHS II + und 25 Vorfälle mit dem Reifen Dunlop SP 344 (der ebenfalls zum freiwilligen Umtausch angeboten wird) gemeldet hat. Die Journalisten von Le Monde wundern sich, dass eine Warnung der breiten Öffentlichkeit oder eine Rückrufaktion auf europäischer Ebene weiter nicht vorgesehen wurden. Ilnas begrüßte damals demnach die „neuen Maßnahmen von Goodyear, da sie die Rücknahme der Reifen vom Markt in angemessener Weise ermöglichen“.

Reaktionen aus Luxemburg

Auf Anfrage von Le Monde verteidigte sich Ilnas: „Unsere Aktion beschränkte sich darauf, die erhaltenen Informationen, die uns relevant erschienen, zu registrieren.“ Auch gegenüber dem Tageblatt relativiert Ilnas die Anschuldigungen von Le Monde. Ilnas-Direktor Jean-Marie Reiff sagt, dass man damals Informationen von Goodyear bekam, die pertinent waren. Es habe keine Belege dafür gegeben, dass dieser Reifen gefährlich sei. „Wir hatten nichts in der Hand, das uns erlaubt hätte, aktiv zu werden“, sagt Reiff, „was tatsächlich der Fall ist, weiß auch heute noch niemand“. Der Ilnas-Mitarbeiter, der damals die Kommunikation mit Goodyear Luxemburg führte, ist mittlerweile pensioniert. Reiff sagt, er könne nicht wissen, was damals besprochen wurde, da er nicht an diesen Sitzungen teilgenommen hat. Er könne nur hoffen, „dass alles professionell ablief und das geschah, was in einem solchen Fall geschehen muss“.

Der beigeordnete Direktor von Ilnas, Claude Liesch, wiederum kann nicht nachvollziehen, warum in den beiden bislang veröffentlichten Artikeln der Vorwurf einer möglichen Vertuschung seitens Goodyear erhoben wird. „Goodyear ist mit seinem eigenen Aufruf zum Reifen-Austausch in die Offensive gegangen“, sagt Liesch, „als Versuch einer Vertuschung sehe ich das nicht“. 

Goodyear Luxemburg teilt auf Tageblatt-Nachfrage hin mit, die beiden noch ausstehenden Artikel von Le Monde abwarten zu wollen, bevor man Stellung zu den Anschuldigungen beziehen werde. Das dürfte dann am Freitagabend der Fall sein, wenn der letzte Teil der Artikel-Reihe erscheinen soll.