Auschwitz-Befreiung vor 75 JahrenSchüler stellen ihren eigenen Bezug zum Holocaust her

Auschwitz-Befreiung vor 75 Jahren / Schüler stellen ihren eigenen Bezug zum Holocaust her
Rubia und Christian aus dem LTMA sprechen mit dem Tageblatt über ihren Besuch im Konzentrationslager von Auschwitz Foto: Editpress/Eric Rings

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Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz steht für die Schüler, die an der „Journée de la mémoire de l’holocauste“ teilnehmen, weniger das Gedenken an sich im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Bezug zu heute. Wieso ist die Thematisierung des Holocausts heute besonders wichtig und wie sehen die Schüler das eigentlich?

Sie war eine ganz normale Jugendliche. Mit den Freuden, Ängsten und Sorgen, die 13- bis 15-Jährige auch heute haben. Anne Frank wurde nur 15 Jahre alt. Weil sie Jüdin war, musste sie sich mit ihrer Familie jahrelang verstecken. 1944 wurde sie von den Nazis nach Auschwitz deportiert und danach nach Bergen-Belsen nahe Hannover, wo sie 1945 im Konzentrationslager starb. Da war sie in etwa so alt wie die Schüler, die sich nun eine szenische Lesung aus ihrem Tagebuch anhören. Das soll den Jugendlichen helfen, sich mit der jungen Augenzeugin zu identifizieren. Anne Frank gibt dem Holocaust ein Gesicht.

Die szenische Lesung der luxemburgischen Schauspielerin Fabienne Hollwege mit Auszügen aus Anne Franks Tagebuch hat die Schüler regelrecht gefesselt. Es war an einem Dienstagvormittag im „Lycée technique Mathias Adam (LTMA)“ in Lamadelaine. Mehrere 3e-Klassen hatten den Weg in den dortigen Festsaal gefunden. Anlass ist die „Journée de la mémoire de l’holocauste et de la prévention des crimes contre l’humanité“, die mit zahlreichen Schülerprojekten vom Zentrum für politische Bildung koordiniert wird. Am 27. Januar vor genau 75 Jahren wurde das Konzentrationslagen Auschwitz-Birkenau befreit.

Natürlich flüstern sie auch manchmal miteinander, aber bei bestimmten Szenen war es mucksmäuschenstill. Die Schüler waren sehr konzentriert.

Fabienne Hollwege, Schauspielerin

Schauspielerin Fabienne Hollwege nimmt die Schüler mit ihrer szenischen Lesung mit auf eine Reise
Schauspielerin Fabienne Hollwege nimmt die Schüler mit ihrer szenischen Lesung mit auf eine Reise Foto: Editpress/Claude Lenert

Das Bühnenbild im Festsaal ist sehr schlicht: ein Tisch, ein Stuhl. Fabienne Hollwege setzt sich vorne auf die Bühne, schaut ins Publikum und spricht mit den Jugendlichen. Blickkontakt, direkte Anrede, keine Distanz. Das ist ihr wichtig. Sie nimmt die Jugendlichen mit auf eine Reise, sagt sie später gegenüber dem Tageblatt. „Ich hatte das Gefühl, sie sind dabei, sie gehen mit. Natürlich flüstern sie auch manchmal miteinander, aber bei bestimmten Szenen war es mucksmäuschenstill. Die Schüler waren sehr konzentriert.“

Bezug zu heute

Hollwege, die manche vielleicht aus dem „Superjhemp“ kennen, hatte zwei Wochen zuvor den Schülern eine Biografie zum Holocaust vorgetragen, eine Einführung in die Thematik. Nach der Lesung bietet sie einen Workshop an. Es werden Fragen beantwortet wie „was ist Rassismus heute?“ und „wo begegnet man ihm?“ oder praktische Übungen durchgeführt, wie man miteinander umgehen sollte.

3e-Schüler aus dem LTMA stellen einen Bezug auf zwischen Anne Franks Geschichte und heute her
3e-Schüler aus dem LTMA stellen einen Bezug auf zwischen Anne Franks Geschichte und heute her Foto: Editpress/Eric Rings

Es ist das, was Michel Bernard, Lehrer für Geschichte und „Education à la citoyenneté“, am LTMA „den Bogen schlagen“ nennt. Nach der Lesung werden die Schüler aufgefordert, auf kleine gelbe Zettel zu schreiben, wieso Anne Franks Geschichte ihrer Meinung nach heute noch aktuell ist. Die Zettel mit den Antworten werden an eine Pinnwand geklebt, die dann jeder Schüler am Eingang des Lyzeums lesen kann.

Heute sind es auch immer noch die Juden, aber nicht nur. Es sind die Flüchtlinge, die Ausländer, die Muslime, die Grenzgänger.

Michel Bernard, Lehrer am LTMA

Nachdem die Zettel ausgefüllt sind, nimmt Bernard das Mikrofon in die Hand und erinnert an die Attacke von Rechtsextremen auf eine Synagoge in Halle im vergangenen Jahr. Er geht auf den Krieg in Syrien und die Menschen, die davor flüchten, ein. Den Völkermord an den Armeniern gab es bereits während des Ersten Weltkriegs. Und nach 1945 gab es zwei weitere Genozide, Ruanda in den 1990er Jahren und Srebrenica. Insbesondere Schülern, die aus dem Balkan stammen, sei das sicherlich ein Begriff, sagt Bernard.

Der kritische Geist

Auch heute gäbe es Antisemitismus, Negationisten, die den Holocaust leugnen, oder Verschwörungstheoretiker. Bernard warnt die Schüler außerdem vor populistischen Parteien, die immer mehr Zulauf erhalten würden. Diese kämen stets mit sehr einfachen Lösungen daher. „Heute sind es auch immer noch die Juden, aber nicht nur. Es sind die Flüchtlinge, die Ausländer, die Muslime, die Grenzgänger. Lasst euch bitte nicht von so einfachen Messages beeinflussen. Ich glaube, es ist wichtig, einen kritischen Geist zu haben“, legt Bernard den jungen Menschen nahe.

Wenn das so weitergeht, dann kann es noch schlimmer werden als bei den Juden damals

Inko, 3e-Schüler vom LTMA

Sam, ein 3e-Schüler, sagt, dass die Lesung aus Anne Franks Tagebuch uns heute daran erinnern soll, wie grausam der Krieg ist: „Wir sollten um jeden Preis vermeiden, nochmal einen Krieg zu führen.“ Er kennt, wie viele seiner Generation, den Zweiten Weltkrieg nur noch aus den Geschichtsbüchern. Lena, ebenfalls auf 3e, berichtet, dass sie mit ihrer Urgroßmutter, die den Krieg noch miterlebt hat, häufig über ihre Erinnerungen spricht. „Auch heute gibt es in verschiedenen Ländern noch Krieg. Und die Leute müssen flüchten“, sagt Lena. Das Problem sei, dass sie aufpassen müssten, wo sie hingehen, denn nicht jeder respektiere jede Nation oder Religion.

Der gleichaltrige Inko weist darauf hin, dass es auch heute noch immer Kriege gegen ethnische Minderheiten gibt. Er erwähnt die muslimischen Uiguren, die in China verfolgt und in Konzentrationslagern gehalten werden. Dies sei der Anfang. „Wenn das so weitergeht, dann kann es noch schlimmer werden als bei den Juden damals“, fürchtet Inko. Dass das Thema Auschwitz in der Schule behandelt wird, ist für ihn wichtig: „Das ist Geschichte. Man soll aus den Fehlern lernen.“

Interesse für den Zweiten Weltkrieg

Das Interesse der Schüler an der Auschwitz-Befreiung und am Zweiten Weltkrieg allgemein kann auch Lehrer Michel Bernard gegenüber dem Tageblatt bestätigen: „Die Schüler fragen mich schon auf 7e, wann wir den Zweiten Weltkrieg behandeln.“ Sie seien zum Teil sehr fokussiert darauf. Ihr Interesse gelte insbesondere den persönlichen Schicksalen, beispielsweise dem von Anne Frank. Es sei allerdings die Aufgabe des Lehrers, die Verbindung zwischen den damaligen Ereignissen und heute zu zeigen.

„Diese Verbindung macht ein Schüler auf 5e vielleicht nicht direkt“, meint Bernard. Würde man die Schüler aber fragen, ob sich die Geschichte nicht doch oder vielleicht zum Teil wiederholt, dann antworteten sie, dass heute noch Krieg in Syrien und an anderen Orten auf der Welt herrscht. „Für mich ist es wichtig, dass sie wissen, was damals passiert ist und was Auschwitz war. Ich bin immer froh, wenn die Schüler meinen Kurs verlassen und mit dem Begriff etwas anfangen können.“

Für Lehrer Michel Bernard vom LTMA ist es wichtig, den Schülern das Wissen um den Holocaust zu vermitteln
Für Lehrer Michel Bernard vom LTMA ist es wichtig, den Schülern das Wissen um den Holocaust zu vermitteln Foto: Editpress/Claude Lenert

Bernard war selbst dreimal in Auschwitz. Einmal als Schüler und zweimal als Lehrer. Die Reisen werden jedes Jahr von der ASBL „Témoins de la deuxième génération“ organisiert. Die Plätze sind allerdings beschränkt. „Das hatte mich enorm beeindruckt. Die Dimension dieses Vernichtungslagers wird einem dort vor Ort nochmal bewusst“, berichtet Bernard.

Ich würde jedem raten, dahinzugehen, auch wenn es schlimm ist

Michel, 1e-Schüler aus dem LTMA über das KZ in Auschwitz

Die 1re-Schüler Rubia, Christian und Michel waren im Oktober 2019 mit der Vereinigung in Auschwitz. Rubia hat sich schon immer für den Zweiten Weltkrieg und die KZ-Lager interessiert. In der Schule habe sie vieles über das Konzentrationslager gelernt. „Aber die Präsenz vor Ort, dort zu sein und das zu sehen, das ist völlig anders als es in den Filmen und Büchern rüberkommt“, meint Rubia. Sie findet, dass die Thematik wichtig ist, insbesondere für Europa und die EU. „Wenn man dort ist, dann sieht man, wie groß das eigentlich ist und wie das Leben dort war“, sagt Christian. Besonders beeindruckt hat ihn die Begleitung eines Zeitzeugen, der den Schülern persönliche Erlebnisse aus der Zeit, in der er dort im Lager war, schilderte. „Durch den Zeitzeugen haben wir das KZ nochmals aus einer anderen Perspektive erlebt“, fügt Rubia hinzu. Als der Zeitzeuge in etwa das Alter von Rubia, Christian und Michel heute hatte, wurde er in einem Waggon nach Auschwitz gebracht.

1.200 Schüler bei Projekten

„Es war schockierend. Es war grausam, was wir dort gesehen haben“, sagt Michel. „Es war aber auch interessant, die Sachen dort mit eigenen Augen zu sehen, statt durch Bilder und Erzählungen.“ Der Auschwitz-Besuch habe ihm geholfen, die Geschichte besser zu verstehen. „Ich würde jedem raten, dahinzugehen, auch wenn es schlimm ist. Man hat nichts zu verlieren. Man kann nur Nutzen daraus ziehen“, ergänzt der Schüler.

Dass die Schüler einen Bezug zur Geschichte herstellen, wollen auch Marc Schoentgen, Direktor des Zentrums für politische Bildung (ZpB), und Romain Schroeder, Koordinator der Projekte des ZpB zum 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung. Zu den Schülerprojekten, die sie in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium koordinieren, gehören szenische Lesungen wie jene von Fabienne Hollwege aus Anne Franks Tagebuch, Filmvorführungen, Theaterstücke und Workshops. Diese richten sich an Schüler ab zehn, von der Grundschule bis hin zur Sekundarschule. Im vergangenen Jahr hatten rund 1.200 Schüler an den verschiedenen Projekten teilgenommen.

Marc Schoentgen (l.), Direktor des Zentrums für politische Bildung, und Romain Schroeder, Koordinator des Schülerprojekts zur „Journée de la mémoire de l’holocauste“, im Tageblatt-Gespräch
Marc Schoentgen (l.), Direktor des Zentrums für politische Bildung, und Romain Schroeder, Koordinator des Schülerprojekts zur „Journée de la mémoire de l’holocauste“, im Tageblatt-Gespräch Foto: Editpress/Julien Garroy

„Wir versuchen eine Vermittlungsarbeit zu leisten, um Wissen weiterzugeben“, erklärt Schoentgen. Dies soll komplementär zu dem sein, was in den Schulen gelehrt wird. „Uns geht es darum, einen Bezug zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, also dem Lebensumfeld der jungen Menschen, herzustellen.“ Laut Schoentgen stehen folgende Fragen im Mittelpunkt der Arbeit des ZpB: Was ist eigentlich Demokratie? Wie kann Demokratie eingeschränkt werden? Woran merkt man das?

Kein moralischer Zeigefinger

Die Aufführungen bieten den Schülern einen Blick in die Vergangenheit. „Dann schlagen wir den Bogen zu heute, indem wir danach einen Workshop anbieten“, sagt Romain Schroeder. „Wir wollen nicht den moralischen Zeigefinger erheben und eine Predigt halten.“ Während des Workshops befassen sich die jungen Menschen mit diesen Fragen und diskutieren über Solidarität, Zivilcourage, wo und wie sie Haltung zeigen können. „Es soll eine Autoreflexion der Schüler sein.“

Es ist nicht immer alles gut oder böse, schwarz oder weiß. Das versuchen wir zu vermitteln.

Marc Schoentgen, Direktor des Zentrums für politische Bildung (ZpB)

Dabei sollen laut Schoentgen noch weitere Fragen erörtert werden. Was ist den Menschen passiert? Wie haben die Menschen drumherum reagiert? Wie hätte ich reagiert? Hätte ich zugeschaut? Wäre ich aufseiten der Täter gewesen oder bei denen, die geholfen haben? Diese Fragen sollen helfen, verschiedene Perspektiven zu sehen. „Es ist nicht immer alles gut oder böse, schwarz oder weiß. Das versuchen wir zu vermitteln“, unterstreicht Schoentgen.

In Luxemburg gäbe es die Besonderheit, dass viele Schüler einen sogenannten Migrationshintergrund haben, so Schoentgen. „Diese Schüler haben nicht die Familienbiografie einer luxemburgischen Familie.“ Er stellt die Frage, was denn ein Jugendlicher mit portugiesischen Wurzeln aus Erfahrung mitbringt. Krieg, Unrecht, Diktatur? Oder eine syrische Flüchtlingsfamilie? Oder Geflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien? Schüler, die solche Biografien haben, kennen laut Schoentgen Situationen der Verfolgung, der Entrechtung. Entweder aus eigener Erfahrung oder aus der ihrer Eltern.

Breite Masse sensibilisieren

Kann eine gute Sensibilisierungsarbeit über den Zweiten Weltkrieg bei jungen Menschen dazu beitragen, aufkommende rechtspopulistische, rechtsextreme und antisemitische Strömungen zu unterbinden? Für Schroeder ist die Antwort auf diese Frage schwer messbar. Wichtig sei es, die breite Masse zu sensibilisieren. Um zu verhindern, dass extremistische Standpunkte in diese breite Mitte hineingreifen können.

Wenn wir einen Schüler von 20 nicht mit unseren Projekten erreichen, weil er aus einer Neonazi-Familie stammt, dann erreichen wir aber vielleicht die anderen 19 Schüler der Klasse und verhindern dadurch, dass die extremistische Sicht übergreift

Romain Schroeder, ZpB-Koordinator der Holocaust-Projekte für Schüler

„Wenn wir einen Schüler von 20 nicht mit unseren Projekten erreichen, weil er aus einer Neonazi-Familie stammt, dann erreichen wir aber vielleicht die anderen 19 Schüler der Klasse und verhindern dadurch, dass die extremistische Sicht übergreift“, so Schroeder. Für Schoentgen ist es wichtig, stets mit Fakten zu argumentieren, wenn man mit Schülern einen Ort aus dem Zweiten Weltkrieg besucht: „Das Gebäude steht noch da; wir haben Dokumente dazu; das Tagebuch ist das Werk einer Augenzeugin.“

Bei der „Journée de la mémorie de l’holocauste“ am 27. Januar gehe es nicht darum, den gesamten Zweiten Weltkrieg zu thematisieren. Dazu habe man im Laufe eines Jahres andere Gelegenheiten. Es ist der Gedenktag der Befreiung von Auschwitz. „Weil Auschwitz das abschreckende Beispiel aller Genozide ist“, so Schoentgen. „Daran wird gemessen, was ein Genozid ist. Es ist sozusagen das Modell eines Genozids.“

Romain Schroeder, Koordinator der Schülerprojekte des ZpB, Schauspielerin Fabienne Hollwege und LTMA-Lehrer Michel Bernard im Festsaal des LTMA in Lamadelaine
Romain Schroeder, Koordinator der Schülerprojekte des ZpB, Schauspielerin Fabienne Hollwege und LTMA-Lehrer Michel Bernard im Festsaal des LTMA in Lamadelaine Foto: Editpress/Claude Lenert