InterviewPolitologe Philippe Poirier über die kommenden Wahlen, eine Reform der Bezirke und die Rolle der Berichterstattung

Interview / Politologe Philippe Poirier über die kommenden Wahlen, eine Reform der Bezirke und die Rolle der Berichterstattung
Philippe Poirier ist Politikwissenschaftler an der Universität Luxemburg Foto: Editpress/Julien Garroy

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LSAP-Spitzenkandidatin Paulette Lenert hat im Tageblatt-Interview für eine Reform des Luxemburger Wahlsystems plädiert. Philippe Poirier, Politologe an der Universität Luxemburg, erklärt, warum das keine neue Forderung ist – und warum sich trotzdem niemand an eine Wahlreform herantraut.

Tageblatt: Wie sind die vier Wahlbezirke in Luxemburg entstanden?

Philippe Poirier: Mit der Einführung des universalen Wahlrechtes nach dem Ersten Weltkrieg stellte sich für die zu dem Zeitpunkt fast dauerhaft regierenden Liberalen die Frage, wie sie möglichst wenige Sitze verlieren würden. Die vier Wahlbezirke waren schließlich ein Kompromiss zwischen Liberalen, Konservativen und Sozialisten, da sich jeder in einem Bezirk stark repräsentiert sah: die Konservativen im Norden, die Sozialisten im Süden und die Liberalen im Zentrum. Damals haben die Bezirkswahlen nicht alle an einem Tag stattgefunden. Stattdessen wurde inmitten einer Legislaturperiode in zwei der vier Bezirke neu gewählt. In den 50er Jahren wurde dann entschieden, die Parlamentswahlen an einem Tag abzuhalten. Seitdem haben sich immer wieder ein oder zwei Parteien gegen eine Veränderung des Wahlsystems gewehrt.

Die LSAP-Spitzenkandidatin Paulette Lenert hat für eine Reform plädiert und eine Auflösung der vier Wahlbezirke ins Spiel gebracht?

Vor und nach jeder Wahl fordern immer wieder Politiker und Parteien, dass das Wahlsystem angepasst werden soll. Es tut sich jedoch nichts und dafür gibt es mehrere Gründe: Einige Parteien hätten Schwierigkeiten, ihre Sitzanzahl zu behalten, wenn beispielsweise das Panaschieren von den vier Wahlbezirken auf einen einzigen nationalen Wahlbezirk ausgeweitet werden würde. Mit vier Wahlbezirken können die Zugpferde der Parteien in den jeweiligen Wahlbezirken ihre Wirkung stärker entfalten. Sie haben demnach nicht unbedingt ein Interesse daran, das zu ändern. Wenn solche Forderungen geäußert werden, muss man auch aufpassen, wie das Machtverhältnis zwischen den Parteien aussieht. Historisch gesehen war jede Partei schon mal für oder gegen einen einzigen Wahlbezirk. Ich kann als Politikwissenschaftler jedoch nur feststellen, dass keine Reform durchgeführt wurde – obwohl sich der Wähler seit ungefähr 2004 eher für einen einzigen Wahlbezirk ausspricht.

Und die Diskussionen rund um die Wahlbezirke flauen nicht ab …

Der Luxemburger Bürger ist geografisch gesehen viel mobiler geworden. Das bedeutet, dass er heute nicht mehr unbedingt in dem Ort oder Wahlbezirk lebt als noch vor 25 Jahren. Und die Wähler im Osten oder Norden würden gerne – und das zu Recht – über den künftigen Premierminister mitentscheiden wollen, der traditionell gesehen aus dem Zentrum oder Süden kommt. Umfragen haben zudem gezeigt, dass das Panaschieren in Luxemburg sehr beliebt ist. Einerseits will der Luxemburger Wähler also das Panaschieren nicht aufgeben, andererseits aber auch auf nationaler Ebene und nicht nur im Wahlbezirk mitentscheiden.

Der Reformwille der Parteien hängt also immer ein bisschen davon ab, wer gerade an der Macht ist – und nützt eher den großen Parteien.

Da spielen halt mehrere Faktoren mit. Einerseits, wie eben schon beschrieben, die Mobilität der Einwohner Luxemburgs. Jemand, der im Süden Luxemburgs geboren wird, wird nicht unbedingt sein ganzes Leben im Süden verbringen. Dann spielt auch eine Rolle, dass sich Wahltendenzen in Luxemburg nicht mehr wie früher über mehrere Generationen hinweg quasi vererben. Die CSV ist stark im Norden, die LSAP im Süden, die DP im Zentrum: Das ist auch weiterhin gültig – jedoch scheint es seit nunmehr zehn Jahren gegensätzliche Tendenzen zu geben. Die ehemalige rote Hochburg Esch wird beispielsweise von einem konservativen Bürgermeister regiert. Kleine Gemeinden im Norden des Landes, die sonst in fester Hand der CSV waren, wählen mehr Grün. Die ehemals stark landwirtschaftlich geprägten Gemeinden im Osten des Landes setzen sich immer mehr aus Menschen zusammen, die in Verwaltungen arbeiten und dort ihren Schlafplatz haben und den traditionellen Wertekatalog aufmischen. Die Wahllandschaft verändert sich. Hinzu kommt, dass durch das Panaschieren die Parteien, die starke Zugpferde haben, traditionell gut abschneiden. Mit dem Abgang von Jean-Claude Juncker hat beispielsweise die CSV ständig an Boden verloren. Wenn eine Partei auf nationalem Niveau stark abschneiden will, braucht es starke Kandidaten in den jeweiligen Wahlbezirken, die beim Panaschieren viele Stimmen abgreifen.

Hat Luxemburg dadurch, dass fast die Hälfte der Einwohner nicht wählen darf, ein Demokratiedefizit?

Die Frage muss aus drei Blickwinkeln betrachtet werden. Erstens gab es 2015 ein Referendum über das Ausländerwahlrecht, dem eine Abfuhr erteilt wurde. Das Legitimationsproblem löst man also nicht, indem man das Wahlrecht an die Bürgerrechte koppelt. Nach dem Referendum von 2015 – vor dessen Ausgang ich das Parlament übrigens anhand vorliegender Umfrageergebnisse gewarnt hatte – wurde ein Abkommen zwischen Mehrheits- und Oppositionsparteien geschlossen, um das Naturalisierungsverfahren zu reformieren. Der Vorschlag von Claude Wiseler, der von den Mehrheitsparteien übernommen wurde, wurde 2018 in Gesetzesform gegossen. Das hat noch einmal neuen Schwung gebracht, denn: Wir wissen mittlerweile, dass vor allem die DP die Stimmen der in Belgien ansässigen Neu-Luxemburger einsammeln konnte. Das hat aber das Legitimationsproblem nicht gelöst.

Was bieten sich denn für Alternativen an?

Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, dass die Luxemburger Bürgerrechte nicht an die Nationalität gekoppelt werden. Es wäre zumindest vorstellbar, dass Einwohnern, die eine bestimmte Anzahl an Jahren in Luxemburg wohnen, und mindestens eine der drei offiziellen Sprachen sprechen, das Wahlrecht gewährt wird. Daran knüpft sich natürlich die Frage der nationalen Identität an und welchen Bezug diese zur Nationalität haben soll. Das Luxemburger Parlament versucht in seiner täglichen Arbeit, alle sozialen Schichten in Luxemburg und deren Interessen widerzuspiegeln. Die Repräsentativität des Landes wird somit durch die legislative Arbeit und das Ausarbeiten von Gesetzestexten erzielt – und nicht etwa durch eine politische Legitimität. Und da muss Luxemburg über alternative Mechanismen nachdenken, um mehr Wähler zu generieren. Das könnte oder müsste auch auf europäischer Ebene diskutiert werden.

Inwiefern?

Es gibt Millionen Menschen, die innerhalb der EU verkehren und nicht mehr unbedingt das Parlament ihres Herkunftslandes, sondern eher über die politische Zukunft in ihrer Wahlheimat bestimmen wollen. Man könnte ja über eine europäische Staatsbürgerschaft nachdenken, die nur an den Wohnort gekoppelt ist und anhand derer man trotzdem über alle politischen Rechte verfügt.

Gemeinde- und Nationalwahlen sind an zwei verschiedenen Tagen. Wie denken Sie über die Trennung der beiden Wahlen?

Einerseits verleihen zwei Wahlen an einem Tag dem Wahlprozess mehr Aufmerksamkeit. Man könnte sich schon vorstellen, dass sich die ausländischen Einwohner, die sich für die Gemeindewahlen einschreiben, demnach auch mehr für die Nationalwahlen interessieren. Auch kann man davon ausgehen, dass der Wähler am Wahltag zwischen Gemeinde- und Nationalwahlen zu unterscheiden weiß. Außerdem kostet es den Staat natürlich weniger, beide Wahlen an einem Tag abzuhalten. Die Politik befürchtet hingegen, dass der Wähler nicht zwischen National- und Gemeindewahlen unterscheiden wird. Und keine Partei will aufgrund lokaler Dynamiken auf nationaler Ebene Stimmen verlieren – obwohl sich aus dieser Dynamik ja durchaus auch Sitzgewinne erzielen lassen könnten. Dann wollen viele Parteien auch nicht die Wählerschaft auf lokaler und nationaler Ebene vermischen. Die Parteien sehen einen Mehrwert darin, zwischen den beiden Wählerschaften unterscheiden zu können. Dann kommt letztendlich auch der Kostenpunkt hinzu. Zwei Wahlen innerhalb weniger Wochen kostet viel Geld und Personal, was diese nicht unbedingt stemmen können. Denn: Personen, die sich auf freiwilliger Basis für eine Wahlkampagne einsetzen, werden immer weniger.

Fokus argumentiert jedoch, dass eine Wahlkampagne sie weniger kosten würde als zwei Kampagnen innerhalb weniger Monate?

Das ist die Ausnahme, die die Regeln bestätigt – auch weil Fokus noch in keiner Gemeinde Fuß gefasst hat. Zudem stellt sich im Luxemburger Wahlsystem das Problem, dass sich Kandidaten bei den Gemeinde- wie auch Nationalwahlen wählen lassen können. Beides an einem Tag ist für die Parteien quasi nicht zu stemmen.

Was halten Sie vom kürzlich unterzeichneten Wahlabkommen?

Es gibt nur wenige Demokratien in Europa, in denen ein solches Wahlabkommen unterzeichnet wird. Luxemburg geht da mit gutem Beispiel voran. Es ist demnach meiner Meinung nach zu begrüßen, solange die darin festgeschriebenen Maßnahmen nicht gegen das Wahlgesetz oder das Parteienfinanzierungsgesetz verstoßen.

Unter anderem wird auch ein Budget festgeschrieben, das die Parteien während der Wahlkampagnen ausgeben dürfen. Das sind 100.000 Euro in den vier beziehungsweise fünf Wochen vor dem Wahltag. Das ist also keinesfalls eine realistische Begrenzung, oder?

Alle politischen Parteien befinden sich seit Dezember 2018 in einem Dauerwahlkampf. Das, weil die tägliche Berichterstattung durch Ansagen der Regierung und in den sozialen Medien ständig als Plattform genutzt wird. Dann gibt es in Luxemburg noch das Phänomen, dass die Arbeit der regierenden Parteien stärker in der Berichterstattung der Medien vertreten ist als die der Opposition. Das war auch schon vor 2013 der Fall. Mehr noch als über die finanziellen Mittel müsste man über Mechanismen nachdenken, um die Berichterstattung ausgeglichener zu gestalten, um die Entscheidung des Wählers möglichst gerecht und verständlich zu gestalten.

charles.hild
31. Januar 2023 - 20.39

@EenausderStaat: Logesch falsch! Beweis: Wa just Nieten op de Lëschte stin, da kommen déi eran, egal wéi de Wahlsystem as! Do hëlleft just ee mëndlechen Examen virum aschreiwen op eng Lëscht. A propos: Wa mer schon ob der Sich no enger Alternativ sin, wéi wier et da mat plus a minus Punkten amplaatz Kräizer. Wat mech am Meeschte stéiert: wann ech ee Kanditat grotteschlecht fanne, da kann ech him keng negativ Bewertung op den Ziedel schreiwen.

Een aus der Staat
30. Januar 2023 - 15.03

@ charles.hild / Das aktuelle System ist seit langem obsolet und deshalb sitzen so viele gewählte Nieten im Parlament.

Nomi
28. Januar 2023 - 22.43

Firwaat net een duebele Wahlziedel,
1) Bezirksleschten wei' bis elo.
2) Nationalleschten wei' wann nemmen 1 Bezierk .

Dat wir mol een Unfank fir eng Iwergangszeit zu Eppes Aanescht !

charles.hild
28. Januar 2023 - 14.57

Erstens: die Einteilung in Bezirke gewährt, dass verschiedene Regionen im Parlament gemäß ihrer Einwohnerzahl vertreten sind. Dadurch werden die spezifischen Probleme auch im Parlament behandelt. Das sollte man also besser so lassen wie es ist. Das hat auch mit Parteipolitik nichts zu tun, außer, dass eben (und genau das soll es) die Parteien auch Probleme außerhalb der Hauptstadt wahrnehmen müssen. Zweitens: Wahlrecht soll jeder haben, der sich mit dem Staat und dem Land eng verbunden fühlt. Das kann man sehr einfach zeigen, indem man die Nationalität annimmt. Es genügt nicht, einfach Einwohner zu sein! Drittens: Alternativen? Naja, das logische wäre wohl, zu schauen, wie das Wahlrecht in den anderen EU-Ländern in Bezug auf „simple Einwohner“ aussieht. Ich denke, da ist Luxemburg dann doch schon sehr „fortschrittlich“!