Nicht allein auf weiter Flur: „Monsieur Linh and his child“ im Grand Théâtre

Nicht allein auf weiter Flur: „Monsieur Linh and his child“ im Grand Théâtre

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Der Flüchtling Monsieur Linh ist allein in einer neuen Umgebung. Sich zurechtfinden bedeutet für ihn auch, seinem Leben einen neuen Sinn zu geben.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, ist eines der berühmtesten Zitate des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Beim Protagonisten Monsieur Linh bewahrheitet sich dies, allerdings auf andere Art, als Wittgenstein es meinte.

Monsieur Linh flüchtet aus seinem vom Krieg zerstörten Land über das Meer. Nach sechs Wochen Überfahrt kommt er in einem fremden Land an, wo er sich integrieren muss. Stets bei sich hat er seine kleine Enkelin, um die er sich rührend kümmert. Der Rest der Familie wurde getötet. Ohne die Sprache des Landes zu kennen, macht er die Bekanntschaft von Mr. Bark. Auch dieser hat seine Frau verloren. Darüber hinaus verbinden beide traumatische Kriegserlebnisse. Sie sprechen zwar nicht die gleiche Sprache, nichtsdestotrotz werden sie Freunde.

Monsieur Linh wird dem Zuschauer nur mittels der Beschreibung eines überparteilichen Erzählers nähergebracht. Er selbst sagt bis zum Ende nur sehr wenig. Die einzigen Worte, die Monsieur Linh kennt, sind, „Guten Tag“: Für ihn sind diese Worte der einzige sprachliche Zugang zu seiner neuen Heimat. Er könnte über so vieles sprechen, mangels Sprachkenntnissen muss er aber schweigen.

In eine Welt hineingeworfen

Vordergründig kann man natürlich die Flüchtlingsproblematik von heute in den Text hineininterpretieren, doch dem Autor Philippe Claudel geht es um weitaus Grundsätzlicheres als diese oder jene spezifische Situation und Problematik. Diese grundlegenden Themen sind die Einsamkeit des Individuums, zwischenmenschliche Kommunikation und Freundschaft.

Monsieur Linh ist – um es mit den Worten des deutschen Philosophen Heidegger zu beschreiben – in eine Welt „hineingeworfen“: Ungefragt muss er dieses Dasein ertragen, und er klammert sich dabei an das Einzige, was ihm von seinem früheren Leben blieb: Das Kind, das er als seine Enkelin ausgibt, gibt seinem Leben einen Sinn. Einen weiteren findet er in der Begegnung mit Mr. Bark. Es entsteht eine Freundschaft, die nichts weiter verbindet als der Wunsch, nicht alleine zu sein. Fortan regeln ihre Treffen Monsieur Linhs Leben. Die beiden kämpfen mit ihren Schuldgefühlen und können sich dabei gegenseitig Trost spenden.

In einem 80-minütigen Monolog spielt der luxemburgische Schauspieler nicht nur die beiden Männer, sondern spricht auch den Text eines Erzählers, der die beiden aus der Vogelperspektive zu beobachten scheint. Der Schauspieler ist alleine mit dem Publikum konfrontiert, was die Einsamkeit der dargestellten Hauptfigur noch unterstreicht.

Wirkung von kleinen Gesten und Worten

Hat man zu Beginn den Eindruck, dass Werner den Text zu überhastet vorträgt, so gelingt es ihm mit fortlaufender Geschichte, die Zeit – so, wie der Erzähler es auch andeutet – zu strecken. Minuten und Sekunden werden zur Ewigkeit und verstärken die Wirkung von kleinen Gesten und einzelnen Worten.

Dieses Strecken der Zeit wird zum Ende des Stückes immer weniger erträglich, da der Zuschauer irgendwann spürt, dass das Ende nah ist. Doch Regisseur Guy Cassiers und sein Darsteller scheinen sich einen Spaß daraus zu machen, das Publikum auf die Folter zu spannen. Selten sahen wir die Relativität von Zeitabläufen so treffend dargestellt.

Dank einer Videospielerei sieht es so aus, als ob Monsieur Linh und Mr. Bark (Jules Werner) nebeneinander sitzen. Hin und wieder erzeugt Werner elektronische Musik, oder besser gesagt Töne, die verstärkt werden und sich minutenlang wiederholen. Diese Regie-Elemente verleihen der Inszenierung einen avantgardistischen Charakter und geben dem Ganzen eine absurde Note, was hervorragend zur Situation der Protagonisten passt. Jules Werner gelingt mittels Sprechweise, Gestik und Mimik eine beeindruckende Darstellung von zwei nach neuem Lebenssinn suchenden Menschen.