InterviewMüssen wir China-Versteher werden? Ein Politologe über unseren Umgang mit Xi Jinpings Riesenreich

Interview / Müssen wir China-Versteher werden? Ein Politologe über unseren Umgang mit Xi Jinpings Riesenreich
Kommunistisches Monument in China: „Das ist für uns Europäer etwas überraschend gekommen, obwohl es nicht überraschend hätte sein dürfen“ Foto: AFP/Jade Gao

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Chinas Präsident Xi Jinping tritt immer selbstbewusster auf. Beim letzten Parteitag der Kommunistischen Partei wurde seine Position nochmals gestärkt. Wie soll Europa, wie soll Luxemburg mit so einem Mann und seinem Land umgehen? Soll man weiter Nähe suchen oder Verbindungen langsam kappen, um nicht in eine erneute Abhängigkeit zu geraten, gerade in der Zeit, in der man sich schmerzhaft von Russland loslöst? Der deutsche Politologe, China-Experte und Luxemburg-Kenner Eberhard Sandschneider gibt Antworten.

Tageblatt: Die Position von Chinas Präsident Xi Jinping wurde Mitte Oktober beim Parteitag der Kommunistischen Partei wie erwartet gestärkt. Der Mann wird immer mächtiger, China immer autoritärer regiert, was bedeutet das für Europa? Müssen wir anders auf China schauen, seit Xi an der Macht ist?

Eberhard Sandschneider: Europa muss anders auf China schauen. Aber das hat weniger mit Xi Jinping zu tun als damit, dass Chinas Aufstieg in den letzten zehn Jahren weitergegangen ist. Das Land ist einflussreicher, mächtiger und wirtschaftlich leistungsfähiger geworden – und in der Lage, seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in politischen Einfluss zu übersetzen. Das konnte man zuletzt an der Debatte in Deutschland und die chinesische Beteiligung an einem Terminal des Hamburger Hafens sehen, das kann man an Chinas Einfluss in Afrika sehen, das kann man an vielem sehen. Das ist ein normaler Vorgang bei dieser wirtschaftlichen Stärke und hat mit Xi Jinping relativ wenig zu tun.

Xi Jinping wird auch von uns im Westen so dargestellt, als habe er stets alles im Griff und ließe sich durch nichts umstoßen. Und er tritt sehr selbstbewusst auf. Spielen Sie seinen Einfluss da nicht etwas herunter?

Xi Jinping hat als Parteichef seit zehn Jahren konsequent verstanden, wie wichtig Technologie ist und der Technologie-Wettlauf ein markantes Element des Wettbewerbs insbesondere mit den Vereinigten Staaten ist. Er tritt selbstbewusster auf, weil er weiß, dass er es sich leisten kann. Das ist für uns Europäer etwas überraschend gekommen, obwohl es nicht überraschend hätte sein dürfen.

Chinas Präsident gilt als mächtigster Mann der Welt, entsprechend selbstbewusst tritt Xi Jinping auf
Chinas Präsident gilt als mächtigster Mann der Welt, entsprechend selbstbewusst tritt Xi Jinping auf Foto: AFP/Noel Celis

Was machen wir denn falsch, dass wir uns so überraschen lassen?

Wir sollten weniger auf der Grundlage unserer Vorurteile und Erwartungen an China herangehen, sondern auf der Grundlage der effektiven Beobachtung dessen, was China tut. Nach dem Volkskongress wird behauptet, Xi Jinping hätte sich einseitig machtpolitisch durchgesetzt. Das ist ein Stück weit daneben. Die anderen Fraktionen in der chinesischen Führung sind alle noch da. Und nachdem Hu Jintao auf die Art und Weise abgeräumt worden ist, wie er abgeräumt worden ist, muss man davon ausgehen, dass die alle klammheimlich nur darauf warten, ihrerseits wieder aktiv zu werden. So stabil wie China unter Xi Jinping scheint, ist es nicht. Wovon man allerdings ausgehen kann, ist, dass auch diese Führung alles daransetzen wird, um das Wirtschaftswachstum als Legitimitätsbasis für die kommunistische Partei fortzusetzen.

Wir alle in Europa, auch und gerade Luxemburg wegen des Finanzplatzes, haben in den letzten Jahren massiv von der Globalisierung profitiert – aber Globalisierung beruht auf gegenseitigen Abhängigkeiten

Chinas Kapital und damit auch sein Einfluss sorgen mal wieder für Diskussionen. In Deutschland ging es über eine chinesische Beteiligung am Hamburger Hafen. Auch in Luxemburg gibt es viele chinesische Beteiligungen an Unternehmen, die BIL, Cargolux und Enovos nur mal als Beispiel. Wird das irgendwann gefährlich? Ab welchem Punkt steckt man zu tief drin?

Diese Debatte führen wir seit dem 24. Februar, nach dem Schock, den dieser Krieg ausgelöst hat. Trotzdem wäre ein gewisses Maß an Gelassenheit notwendig. Wir alle in Europa, auch und gerade Luxemburg wegen des Finanzplatzes, haben in den letzten Jahren massiv von der Globalisierung profitiert. Globalisierung beruht aber auf gegenseitigen Abhängigkeiten. Wir sind abhängig von Märkten, von Ressourcen, von Lieferketten. Diese Abhängigkeiten waren in den letzten Jahren Grundlage unseres ökonomischen Erfolges. Man darf also das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Wenn aber jemand hingeht und diese Abhängigkeiten als Waffe einsetzt, verändern sich die Dinge und das erleben wir gerade. Russland setzt Ressourcen als Waffe ein. Die Vereinigten Staaten setzen im Augenblick Chips als Waffe ein, also Technologie und ein weiterer Treiber von Globalisierung. Und der ganze Westen setzt Finanzen und die Kontrolle von Finanzströmen gegen Russland als Sanktionsinstrument und damit eben auch als Waffe ein. Was unsere Zeit im eigentlichen Sinne kennzeichnet, ist die Tatsache, dass aus den wichtigsten Globalisierungstreibern von gestern heute Anti-Globalisierungs-Waffen werden, und das ist die eigentliche Herausforderung, mit der wir umgehen müssen.

Immer mehr Chinesen empfinden die Null-Covid-Politik und die Lockdowns als Belastung, das schafft dem Regime Probleme
Immer mehr Chinesen empfinden die Null-Covid-Politik und die Lockdowns als Belastung, das schafft dem Regime Probleme Foto: AFP/Eduardo Leal

Trotzdem nochmal zu den chinesischen Beteiligungen, wenn Sie Regierungschef eines europäischen Staates wären, würden Sie da keine roten Linien ziehen und sagen, in diesen oder jenen Bereich dürfen die Chinesen nicht rein?

Ob man eine Linie ziehen möchte, ist die eine Frage, ob man sie ziehen kann, ist eine andere. Hinzu kommt, dass wir an vielen Stellen schlicht und ergreifend schlecht informiert sind. So hören wir zum Beispiel die letzten Tage, eine chinesische Beteiligung am Hamburger Hafen, wie an anderen europäischen Häfen, wäre umgekehrt unmöglich. Das ist aber falsch. Es gibt eine Beteiligung von Maersk an einer ganzen Reihe von chinesischen Häfen. Das ist ein Logistik-internes Kooperationsmuster, das man nicht einseitig überbewerten darf. Letztendlich ist es eine politische Frage, ob man solche Linien zieht. Aufmerksam zu bleiben, was den Abfluss von kritischem Knowhow und damit auch von kritischer Infrastruktur angeht, ist eine Selbstverständlichkeit, die man eigentlich gar nicht betonen müsste.

Sie würden also keine ziehen?

Bei kritischer Infrastruktur, wie immer man das definieren mag, und bei militärischer Infrastruktur sehe ich eine rote Linie. Ich bin aber skeptisch, im Generellen solche Linien zu ziehen, weil sie sich durch die technologische Entwicklung sehr schnell verändern. Wenn europäische und chinesische Unternehmen zusammenarbeiten, dann um gemeinsam Technologie zu entwickeln und nicht mehr im Wettbewerb. Da verändern sich die Grundstrukturen der technologischen Zusammenarbeit in einer sehr fundamentalen Art und Weise und wir denken alle noch sehr nationalstaatlich, leider.

Das ist auch im Hinblick auf die Beziehungen der EU-Staaten zu China der Fall. Nimmt Peking die Europäische Union als Staatenbund ernst oder dividiert es das Bündnis wie Wladimir Putin lieber in Einzelstaaten auseinander?

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Einmal hat man den Eindruck, dass China ganz froh wäre, wenn Europa, wie in dem berühmten Zitat, „mit einer Stimme sprechen“ würde. Das tut es aber nicht und das macht es China manchmal leicht, Teile-und-Herrsche mit uns zu spielen. Auf der anderen Seite beschweren sich chinesische Unternehmer und Diplomaten immer wieder über die unverständlichen Strukturen in Europa. Dieser Tage hört man vor der China-Reise des deutschen Kanzlers, er müsse dort europäische Positionen vertreten. Aber wer weiß, was eine europäische Position ist zwischen Frankreich und Ungarn zum Beispiel? Was soll Olaf Scholz sagen, wenn er in Peking empfangen wird und für Europa sprechen soll? Das Problem liegt eigentlich an Europa.

Beim Parteitag ließ Xi Jinping seinen Vorgänger Hu Jintao wegräumen, die alte Garde ist trotzdem noch da
Beim Parteitag ließ Xi Jinping seinen Vorgänger Hu Jintao wegräumen, die alte Garde ist trotzdem noch da Foto: dpa/kyodo

Europa will weg von den fossilen Brennstoffen. Um die industrielle Umrüstung auf Erneuerbare hinzukriegen, sind wir aber auf Ressourcen aus China angewiesen, 98 Prozent der nach Europa importierten Seltenen Erden kommen beispielsweise von dort. Sind wir China in dieser Frage auf Gedeih und Verderb ausgeliefert?

In der klassischen Frage der Ressourcenabhängigkeit heißt die Antwort Ja. Aber es geht ja weiter. Wenn wir die Bekämpfung vom Klimawandel ernst meinen, sind wir auch in der sehr weiten Form von China abhängig, denn ohne China funktioniert das nicht. Wir sind jedoch in diese selbst gestellte Falle gestolpert, wo wir einerseits China für alles kritisieren, was mit unserem Wertesystem nicht konform ist, auf der anderen Seite China aber brauchen, um wesentliche Probleme der internationalen Politik konsensuell und gemeinsam lösen zu können. Ohne China funktioniert es nicht, gegen China funktioniert es schon gar nicht. Das ist die große Herausforderung der westlichen Politik, die immer noch ein Stückchen weit glaubt, China von außen beeinflussen zu können. Das hat in der Vergangenheit nicht funktioniert und wird es auch in Zukunft nicht tun – das ist die größte Lehre der letzten Jahre. Wir werden diese Probleme mit China nur lösen können, wenn wir die Chinesen dort abholen, wo sie ihre eigenen Interessen haben. Wenn wir versuchen, ihnen unsere Interessen überzustülpen, dann wird diese Politik kläglich scheitern. Genauso, wie sie in der Vergangenheit gescheitert ist.

Zur Person: Eberhard Sandschneider

Prof. Dr. Eberhard Sandschneider ist Chinaexperte und Partner bei Berlin Global Advisors. Von 2003 bis 2016 war er Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, einem der führenden europäischen Thinktanks. Seit 1998 hat er einen Lehrstuhl für chinesische Politik und internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin inne. Zwischen 1995 und 1998 war er Professor für Internationale Beziehungen an der Johannes-Gutenberg Universität in Mainz. Als Autor zahlreicher Bücher, darunter „Chinas unheimlicher Aufstieg und die Ohnmacht des Westens“, ist er ein gefragter Referent zu globalen Risiken.

Sollten europäische Staats- und Regierungschefs bei ihren Peking-Besuchen Menschenrechtsfragen also gar nicht erst ansprechen, weil sie sowieso nichts bewirken?

Doch, auf jeden Fall! Es ist unser gutes Recht, die chinesischen Partner auf die Probleme, die wir sehen, hinzuweisen, gerade bei der Verletzung von fundamentalen Werten nach unserer Vorstellung. Aber China wird diese Politik nicht ändern, um uns einen Gefallen zu tun. Es muss diese Politik aber ändern – und das kann man mit Chinesen konstruktiv besprechen –, weil es im eigenen Interesse Chinas ist, eine Politik zu ändern, die erkennbar wenig Erfolg haben wird in den nächsten Jahren. Das gilt insbesondere für die Xinjiang-Frage und in der Frage der Menschenrechte. Es brodelt jetzt schon in den sozialen Medien. Trotz Internetzensur und Internetpolizei erheben sich kritische Stimmen, die beispielsweise die Covid-Politik nicht mehr hinnehmen wollen. Es ist in Chinas eigenem Interesse, Veränderungen vorzunehmen.

Die „Belt and Road“-Initiative, die neue Seidenstraße, ist das Paradeprojekt Xi Jinpings. Seit Jahren bereits können Container sogar von Luxemburg aus per Zug nach China transportiert werden. Wie wirkt sich der Ukraine-Krieg auf die vielen Wege der Initiative aus?

Es läuft weiter. Das Konzept als solches ist durch den Ukraine-Krieg nicht ad absurdum geführt worden. Einige Eisenbahnverbindungen über Zentralasien, Russland, Belarus in die Europäische Union bis zum Hafen in Duisburg sind aber unterbrochen worden. Die waren zwar wichtig, aber die „Belt and Road“-Initiative umfasst viel mehr als nur die durch den Ukraine-Krieg gestoppte Eisenbahnverbindung in den Westen und erstreckt sich genauso auf Afrika wie auf die Arktis. China wird da wenig Abstriche machen.

China steht im Ukraine-Krieg weiter auf der Seite Russlands. Wie passt das zusammen, wenn sein Paradeprojekt wegen dieses Kriegs teilweise ins Stocken gerät?

Es war nie richtig, dass Xi Jinping uneingeschränkt den Ukraine-Krieg befürwortet. Und die angesprochene unterbrochene Zugverbindung ist nur einer der Gründe, warum China alles in allem unzufrieden ist mit dem Ukraine-Krieg. Auch die Getreidelieferungen aus der Ukraine nach China sind betroffen. Xi Jinping hat sich wahrscheinlich von Wladimir Putin erzählen lassen, dass das eine kurze Geschichte wird und danach alles wieder gut ist. Die Frustration in China über diesen Krieg ist schon einigermaßen hoch.

China würde den Krieg am liebsten beendet sehen, will Putin aber nicht verlieren sehen – zusammengefasst sage ich mal: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“.

Aber China könnte doch Druck auf Wladimir Putin ausüben und helfen, den Krieg zu beenden. Warum tut es das nicht, wenn es unzufrieden ist?

China würde den Krieg am liebsten beendet sehen, will Putin aber nicht verlieren sehen. Aus ökonomischer Sicht ist dieser Krieg eine Belastung für China. Aus geopolitischer Sicht aber hat China kein Interesse daran, dass Wladimir Putin in seiner Herausforderung des Westens – so wird das interpretiert – letztendlich nicht erfolgreich ist. Zusammengefasst sage ich mal: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“.

Arbeiter vom Apple-Zulieferer Foxconn fliehen vom Firmengelände, um einem Lockdown und Lebensmittelengpässen zu entgehen
Arbeiter vom Apple-Zulieferer Foxconn fliehen vom Firmengelände, um einem Lockdown und Lebensmittelengpässen zu entgehen Hangpai Xingyang/Hangpai Xingyan

Wie gefährlich ist das lauter werdende Säbelrasseln um Taiwan? Wann ist der Punkt erreicht, an dem China tatsächlich angreifen würde?

Das ist eine schwierige Abwägungsfrage, aber er ist sicherlich dann erreicht, wenn entweder die westliche Ein-China-Politik aufgegeben wird oder Taiwan sich unabhängig erklärt. Seit Anfang der Siebzigerjahre ist das die klar definierte rote Linie Pekings. Wer diese Linie überschreitet, muss damit rechnen, dass es zu militärischen Konsequenzen kommt. Und wer an diesem Konflikt rüttelt, muss sich bewusst sein, dass das einer der großen Konfliktherde der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts ist. Solange keine einvernehmliche Lösung für alle Seiten erkennbar ist, solange ist man gut beraten, diesen Konflikt nicht nur gefroren, sondern tiefgefroren zu lassen und auf eine Konstellation in der Zukunft zu warten, die eine friedliche Lösung erlaubt.

Seit dem Beginn der Pandemie hat sich das Straßenbild in Europas Städten verändert – wann kommen die chinesischen Touristen endlich zurück?

Noch reisen sie nicht. Sie können nach Europa kommen, aber dann nicht mehr nach Hause, ohne 21 Tage in Quarantäne zu müssen, die kein Mensch auf sich nehmen möchte. So sehr westliche Hotels, Gasstätten, Touristik- und Busunternehmen auf die Kundschaft aus China auch warten, das wird erst nach dem offiziellen Ende der Covid-Pandemie wieder möglich sein. Ich gehe nicht davon aus, dass das vor 2024 möglich sein wird. Wenn alles gut geht.

Eberhard Sandschneider
Eberhard Sandschneider Foto: Berlin Global Advisors 
Faust
2. November 2022 - 11.32

Wenn es um's Geld geht verstehen wir jeden und alles. Sei dies nun Unterdrückung mit Sichel und Hammer oder mit dem Krummschwert,wenn der Taler rollt ist alles erlaubt. Da vergeben wir schon einmal eine Winterolympiade oder eine Fußball-WM in diese Länder um sie nicht zu kränken. Produkte aus China,hergestellt mit Kobalt aus afrikanischen Minen in denen Kinder arbeiten dürfen?Heuer verkauft Scholz noch seine Häfen an die Chinesen,als hätte er nichts verstanden.Wir haben unsere Freiheit verkauft an den billigsten Anbieter und unser Gewissen gleich mit. Geiz ist geil. Ich verstehe die Chinesen,aber uns verstehe ich nicht.