Interview„Nicht in die richtige Richtung“: Jean-Claude Juncker über Corona, Beliebtheitswerte und die Sorge um seinen Urlaub

Interview / „Nicht in die richtige Richtung“: Jean-Claude Juncker über Corona, Beliebtheitswerte und die Sorge um seinen Urlaub
„Luxemburger sind schuld an der Misere anderer Luxemburger“: Jean-Claude Juncker spricht auch über das teure Wohnen in Luxemburg Foto: Siobhán Geets

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Vergangenen November endete seine Amtszeit als Präsident der EU-Kommission. Doch um mit Jean-Claude-Juncker zu sprechen, bleibt Brüssel der beste Ort. Im Berlaymont, dem Gebäude der Kommission, hat Luxemburgs ehemaliger Premier weiterhin ein Büro. Statt bis nach ganz oben bringt der Aufzug einen jetzt noch bis in den achten Stock. Sonst hat sich nicht viel geändert, Juncker ist freundlich und in Redelaune – man sollte ihn in diesen Corona-Zeiten nur nicht mit einem Ellbogen-Stupser begrüßen.

Tageblatt: Jeder kennt Sie als großen Anhänger herzlicher Begrüßungsgesten. Wann haben Sie, abgesehen von Ihrer Familie, das letzte Mal jemanden umarmt oder geküsst?

Jean-Claude Juncker: Unabhängig davon, dass Teile davon unter der Rubrik Amtsgeheimnis unterzubringen sind: kaum noch. Ich vermisse das sehr. Ich mag Menschen. Sie berühren, herzen zu können – die, die ich mag, manchmal auch andere –, das ist für mich wie ein abgekürzter Weg zu ihnen. Ich habe heute Mittag mit einigen Kommissaren gegessen und musste sie begrüßen, wie man das in Asien macht.

Es geht auch mit dem Ellenbogen.

Wenn mir jemand seinen Ellenbogen unter die Nase reibt, dann wehre ich den ab! Diese Zeit ist nicht meine Zeit, weil die Körpersprache wegfällt. Wer nicht mit dem Körper redet, der redet nur halb. Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist – falls es vorbeigeht. In den 75 Tagen, in denen wir in Luxemburg eingesperrt waren – ich war in 45 Jahren noch nie so viel mit meiner Frau zusammen, es ging trotzdem gut –, kam ich mir vor wie jemand, der nicht zeigen konnte, was er zeigen wollte. Ich habe das Haus kaum verlassen, denn die Luxemburger erkennen mich trotz Maske. Zuerst dachte ich: Eine schöne Zeit, kein Schwein kennt mich, aber doch: Sie stürzten auf mich zu. Das ist zwar schön, aber das darf ich jetzt nicht. Du darfst Menschen, die dich liebevoll begrüßen, aber nicht zurückweisen.

Was haben Sie also getan?

Ich habe gesagt: Stopp. Ich war ein überzeugter Maskenträger. Ich habe mich an die Empfehlung der Regierung gehalten und bin nicht ohne Maske aus dem Haus, weil ich zeigen wollte, dass die Regel für alle gilt.

Politiker in Regierungsämtern haben auch die Pflicht, Schaden dadurch abzuwehren, dass man die Menschen nicht in Angst und Schrecken versetzt. Ich finde nicht, dass die luxemburgische Regierung da Fehler gemacht hat.

Für viele Luxemburger waren die Grenzschließungen Mitte März erschreckend, quasi ein Regelbruch, der dazu noch ohne Vorwarnung kam. Sie gelten als enger Freund Deutschlands, einfach so die Betonquader auf die Grenze gestellt zu bekommen, hätten Sie so etwas für möglich gehalten?

Nein, in der Form nicht. Weil es keine europäische Kompetenz gab, wurde national reagiert. Aber dass man, ohne sich weitere Fragen zu stellen, ohne die Nachbarn zu informieren, einfach über Nacht die Grenzen schließt, indem man holzschnittartig von Berlin aus Lösungen auf die Grenzregionen niederprasseln lässt, ohne das Ambiente dieser Grenzregionen überhaupt zu kennen, das hat mich schon sehr negativ überrascht. Die Schuld trifft nicht die luxemburgische Regierung, obwohl ich bemerkt habe, dass sie gesagt hatte: Wir haben mit unseren Nachbarn gesprochen, das wird nicht geschehen. ­­Und es ist trotzdem geschehen. Man hat das aus Rücksicht der allgemeinen Lage politisch nicht hochstilisiert.

Die Regierung in Luxemburg steht zurzeit wegen ihrer Informationspolitik in der Kritik. Sie haben einmal gesagt, dass man lügen muss, wenn es ernst wird. Das war zwar ein anderer Kontext, da ging es um die Märkte …

Das war ein anderer Kontext. Ich habe nie das Prinzip ausgegeben, wenn es ernst wird, muss man lügen. Ich habe erklärt, wieso man in einer bestimmten Lage nicht die ganze Wahrheit sagen kann. Ich habe mich auf Englisch geäußert, es wäre besser gewesen, es wäre auf Luxemburgisch gewesen.

Der Satz ist trotzdem hängen geblieben. Was nutzt das Verschweigen in der Politik und wie erkennt ein Politiker, dass es Zeit ist, die Wahrheit auf den Tisch zu legen?

Das ist die schwierige Frage, denn lügen und nicht alles sagen, ist nicht dasselbe. Politiker in Regierungsämtern haben auch die Pflicht, Schaden dadurch abzuwehren, dass man die Menschen nicht in Angst und Schrecken versetzt. Ich finde nicht, dass die luxemburgische Regierung da Fehler gemacht hat. Es gab einige Schnitzer, weil ab einem Zeitpunkt zu viele Pressekonferenzen stattfanden. Niemand wusste mehr genau, was eigentlich die Lage ist. Das ist in Luxemburg besonders schwierig, denn Luxemburger sehen ja luxemburgische Nachrichten und deutsche, belgische, französische. Da lief so vieles auseinander und zusammen, dass man nicht mehr wusste: Was ist denn jetzt in Luxemburg? Darauf muss man achten, wenn man sich vor Kameras stellt. Aber grobe Fehler sind da nicht passiert. Ich habe derartige Situationen öfters erlebt: Man muss ja die Regierung nicht nur danach beurteilen, was sie wann und wie sagt, sondern auch danach, was sie zu tun hat.

Bislang ist die Regierung bei der Bevölkerung ganz gut weggekommen. Beim Politmonitor gab es sogar einen neuen Beliebtheitsrekord …

Moment, ich habe Paulette Lenert mehrfach gelobt, weil ich fand, dass sie das gut gemacht hat. Ich bin auch froh, dass sie in den Meinungsumfragen exzellent abschneidet. Alle Zeitungen schreiben, dass es so ein gutes Ergebnis noch nie gegeben hat, aber sie irren fundamental, denn ich hatte ähnliche Ergebnisse!

Stört Sie das?

Nein, nein. Aber das kommt dauernd vor: Einer hat’s gesagt, und die anderen schreiben es ab. Doch dann berichtet die Presse nicht über die Wirklichkeit, sondern über die Artikel der anderen.

Viele Menschen merken: Ohne Europa geht es nicht. Der Nationalstaat gerät außer Atem, wenn das Tempo schneller wird.

Kaum war Ihre Amtszeit zu Ende, wurde die EU von einer der größten Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs überrollt. Mit Krisen kennen Sie sich aus, haben wir dieses Mal alles richtiggemacht?

Wenn man sich mit einer größeren Krise auseinandersetzen muss, kann man nicht alles richtig machen. Keine Regierung hat alles richtig gemacht, aber viele Regierungen haben das Notwendige nicht falsch gemacht. Tatsache ist, dass die Europäische Kommission in Fragen der öffentlichen Gesundheit keine Kompetenzen hat. Es ist nicht so, dass kein Versuch unternommen wurde, dies zu tun: Bei den Vorbereitungen zum Verfassungsvertrag 2003/2004 hat die luxemburgische Regierung eine Kompetenzerweiterung der Europäischen Union in Richtung öffentlicher Gesundheit vorgeschlagen. Das wurde von drei Viertel der Regierungen abgeblockt, vornehmlich von jenen, die jetzt lauthals nach mehr europäischem Zusammenhalt schreien. Deshalb war der Handlungsbezugsrahmen der Regierungen ein nationaler, denn es gab ja keinen europäischen Rahmen. Jeder hat sein eigenes Corona-Süppchen gekocht. Das hat zu Verwerfungen geführt: Es gab zum Teil überflüssige Grenzschließungen, erstaunliche, strikt nationale Reflexe, wenn es um den Export von medizinischem Material ging.

War das auch eine Erinnerung daran, was Europa bedeutet?

Ich habe in zahlreichen Gesprächen festgestellt – man telefoniert ja jetzt viel und küsst sich nur noch am Telefon –, dass viele Menschen erkannt haben, dass der Hinweis auf die Wichtigkeit offener Verkehrswege in der EU kein Märchen war. Viele, vor allem in den Grenzregionen, haben gemerkt, dass es an Europa gemangelt hat. Es gab auch Solidaritätsbekundungen. Patienten aus Ostfrankreich wurden in deutschen und auch in luxemburgischen Spitälern behandelt. Viele Menschen merken: Ohne Europa geht es nicht. Der Nationalstaat gerät außer Atem, wenn das Tempo schneller wird. Demnach denke ich, dass wir in dieser Krise bessere Europäer geworden sind: Durch den Beweis der Tat können wir belegen, wieso wir Europa, also die EU, brauchen.

Die Corona-Krise hat aber zuerst einmal die Schwächen der EU offengelegt: Von bewaffneten Polizisten bewachte Grenzen, das Zurückhalten von medizinischen Produkten …

Das ist nicht die EU. Das sind die Mitgliedstaaten.

Aber die EU, das sind ja die Mitgliedstaaten.

Ja, ja. Wann immer man sagt, die EU hat versagt, dann höre ich schon im Hinterkopf: Die Kommission hat versagt.

Ich spreche jetzt von der Union als Ganzes. Deren Schwächen sind zutage getreten, etwa die Abhängigkeit von China …

Abhängigkeiten sind keine Schwächen. Sie sind gewollt oder geduldet. Abhängigkeiten gegenüber China waren nicht gewollt, aber wurden massiv, sehr oft aus egoistischen, nationalökonomischen Gründen, betrieben. Das Resultat haben wir in dieser Krise gesehen. Ich war über viele Jahre ein ausgesprochener China-Freund. Ich habe hier in Brüssel viele Gipfel mit dem chinesischen Präsidenten geführt. Einmal sagte ich zu dessen Ärger: Wir sind Partner, aber wir sind auch Rivalen. Dann haben wir unter meiner Schirmherrschaft Mechanismen zur Investitionsüberprüfung ausgearbeitet, die vor allem auf China abzielten. Viele Mitgliedstaaten versuchten, unterhalb der Linie, die die EU festgelegt hat, bilaterale Vereinbarungen mit China abzuschließen. Viele dachten: Wenn ich mit den Chinesen ein Geschäft hinkriege, ist mir Europa egal. Die sitzen jetzt im Sud, den sie sich zusammengebraut haben.

Es ist öfter passiert, dass wir als EU nicht imstande waren, die Menschenrechtslage in China zu verurteilen. Wieso nicht? Weil die Chinesen dabei waren, mit einzelnen Mitgliedstaaten Sondergeschäfte abzuschließen.

Wie kann dieses Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten bekämpft werden?

Die EU muss ihre Fähigkeit zur Weltpolitik verbreitern und vergrößern. Es ist öfter passiert, dass wir nicht imstande waren, die Menschenrechtslage in China zu verurteilen. Wieso nicht? Weil die Chinesen dabei waren, mit einzelnen Mitgliedstaaten Sondergeschäfte abzuschließen. Die Chinesen haben in den Hafen von Piräus investiert – das hätten die Europäer auch tun können. Deshalb konnten sie sich China gegenüber nicht demokratisch korrekt benehmen. Es braucht auch in Fällen der europäischen Außenpolitik ein Mehr an Entscheidungen, die mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden können. Regierungen reagieren darauf sehr allergisch, weil es eingebildete Souveränitätsreste gibt, die man nicht so einfach aufgeben will. Sogar die luxemburgische Regierung, sogar mein Freund Asselborn, war nicht sehr begeistert von der Idee, dass wir in Fragen der Außenpolitik mit qualifizierter Mehrheitsfindung versuchen, der europäischen Stimme mehr Gewicht zu geben. Es mangelt Europa an Selbstvertrauen und an deutlichem Verlautbarungswillen nach außen, weil wir nicht weltpolitikfähig sind – noch nicht.

Ist das der nächste große Integrationsschritt: eine gemeinsame Außenpolitik, die diesen Namen verdient?

Angesichts der internationalen Herausforderungen, angesichts der Tatsache, dass frühere Verbündete zwar noch Verbündete sind, sich aber Europa gegenüber mit einer Geste der kalten Schulter nähern, angesichts der USA ist es dringend geboten, dass wir in der Außenpolitik zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen kommen.

Wenn man als europäischer Politiker durch die Welt zieht, hat man in seiner Waagschale einen Binnenmarkt mit 440 Millionen Menschen – und unsere Werte. Die Regierungen in Ländern wie Ungarn und Polen sägen aber an diesen. Schwächt das die europäische Verhandlungsposition in der Welt?

Nein. Die EU genießt Anerkennung in der Welt, weil sie auf einem strikten Wertekanon fußt, der nicht aufgekündigt wurde, obwohl Ungarn und Polen und manchmal auch andere sich alle möglichen Freiheiten herausnehmen. Trotzdem macht mich dieses Abdriften vom europäischen Wertekanon sehr besorgt, weil es zu der bestimmten Idee, die ich von Europa habe – „une certaine idée de l’Europe“ – gehört, dass wir intern und nach außen hin für diese Werte eintreten. Ich habe es nie gemocht, dass man Europa nur als einen Wirtschaftsraum begriff. Europa ist eine Verpflichtung, die der Kontinent sich selbst auferlegt hat aufgrund schlimmer historischer Vorgänge, die noch nicht lange her sind.

Erst vor wenigen Tagen fand das Gedenken zu 25 Jahren Srebrenica statt.

Ich verzweifele manchmal daran, wenn ich mit Menschen vom Balkan oder mit EU-Europäern über den Balkan rede. Man hat vergessen, dass das vor 20 Jahren war – Vergewaltigung, Massenmord, Vertreibung. Vor 20 Jahren saßen die Europäer vor ihrem Bildschirm und manche haben da geweint – und das ist alles weg, ausgewischt, als ob es das nie gegeben hätte, als ob so etwas nie mehr passieren könnte. Auch der Zweite Weltkrieg ist nicht so lange her, dass man nicht denken dürfte, dass man nicht denken könnte, es kann immer wieder passieren. Es gibt von Bertolt Brecht den schönen Satz: „Fruchtbar ist der Schoß noch.“ Und der Schoß ist noch fruchtbar. Man muss Geschichte und ihre Wiederholbarkeit sehr ernst nehmen. Europa ist nicht ein Angebot an die Welt. Wenn ich in Afrika bin, wenn ich in Asien bin – Europa wird bewundert aufgrund unserer doch zäsurhaften Gesamtleistung: Nie mehr Krieg! – der Satz ist aufgegangen.

In der Flüchtlingspolitik sind europäische Werte allerdings schwer ausfindig zu machen. Die EU setzt auf Abschreckung. Es gibt keine Seenotrettung mehr, das Asylrecht wurde teilweise ausgesetzt …

Nicht die EU, sondern die Mitgliedstaaten. Es gab einige Mitgliedstaaten, die verhindert haben, dass es einvernehmliche Lösungsansätze in der Europäischen Union gibt. Dann kann man doch nicht die EU als solche haftbar machen für derartige Verirrungen! Ich kann mich nicht erinnern, dass der luxemburgische Außenminister gesagt hätte, jetzt müssen wir die Rollläden herunterlassen – er hat das Gegenteil gesagt, der belgische Außenminister auch, der italienische auch. Die Kommission hat im Frühjahr 2015 ein komplettes Asylpaket vorgelegt, das wurde bis heute nicht verabschiedet. Wenn die Mitgliedstaaten nicht handeln, kann die EU nichts tun. Europa ist nur so stark wie seine Mitgliedstaaten stark sein wollen. Jeder ist gern stark in seiner Ecke und das führt sehr oft zu europäischem Muskelschwund.

Sie haben sich immer klar gegen Rechte positioniert. Warum gewinnen die Rechten Europas in den letzten Jahren dermaßen dazu?

Die EU findet in allen Umfragen – seit dem Brexit noch mehr – große Zustimmung, weil die Menschen spüren, dass die Nationalstaaten alleine nicht in der Lage sind, die Probleme zu bewältigen. Doch manchmal tendieren die Wahlergebnisse in Richtung Populisten und Vereinfachern. Die FPÖ in Österreich hatte zu ihren Hochzeiten beeindruckende Wahlergebnisse. Aber war das nur wegen Europa oder war das auch wegen nicht gelöster innerösterreichischer Probleme? Die AfD in Deutschland – ist das ein Votum exklusiv gegen die EU oder hat das auch mit Problemen in Deutschland zu tun? Oder hat das mit Ressentiments zu tun, die es immer noch in erheblichem Maß in europäischen Ländern gibt und die nichts mit Tagesaktualität zu tun haben? Le Pen wird in Frankreich gewählt, nicht, weil alle ihre Wähler Faschisten wären oder Anti-Europäer, sondern weil es eine Debatte in Frankreich gibt zwischen der Elite und „La France d’en bas“. Populisten und Europa-Gegner sind, von ihren Wahlergebnissen her, nicht bloß so zu analysieren, als ob das nur Europa-Gegner wären. Das hat auch immer mit der Gefechtslage in der eigenen Region zu tun und mit der Art und Weise, wie Politik dargestellt wird.

Wenn die Regierung die Pandemie in Luxemburg nicht in den Griff kriegt, dann werden die Luxemburger die Ferien wohl zu Hause verbringen

Wie Politik in Medien dargestellt wird?

Ich rede nicht von Printmedien, sondern von den sogenannten sozialen Medien. Dies ist die Zeit der stupiden plumpen Vereinfachungen. Deswegen lese ich soziale Medien nicht. Mir wurde berichtet, was da tendenziell los war, aber um jeden Tag zu lesen, dass ich korrupt bin, dass ich ein Säufer bin und ein Hurenbock, das finde ich nicht nötig und nicht notwendig – und es stimmt ja nicht alles davon.

Wie sollte Politik in Ihren Augen denn dargestellt werden?

Man braucht eine nuancierte Betrachtung. Als gestandener Christdemokrat bin ich der Einzige, der noch Lenin zitieren darf, und Lenin hat gesagt, man muss die Dinge hinter den Dingen sehen.

Ist das der Grund, wieso die Konservativen Europas jene Parteien, die nach rechts abdriften, im Club halten?

Die Kritik mag die Europäischen Volkspartei treffen, aber mich nicht. Seit drei Jahren plädiere ich intensiv dafür, dass man die Orbán-Partei aus der EVP ausgliedert, weil ich zwischen Orbán und mir keine großen Schnittmengen sehe. Idem die Forza Italia. Aber die möchte ich nicht ausschließen, sondern reformieren.

„Dann werden die Luxemburger die Ferien wohl zu Hause verbringen“: Jean-Claude Juncker freut sich wie jedes Jahr auf seinen Urlaub in Tirol, sorgt sich aber, wegen der Corona-Lage dieses Jahr nicht hinfahren zu können
„Dann werden die Luxemburger die Ferien wohl zu Hause verbringen“: Jean-Claude Juncker freut sich wie jedes Jahr auf seinen Urlaub in Tirol, sorgt sich aber, wegen der Corona-Lage dieses Jahr nicht hinfahren zu können Foto: Editpress/Armand Back

Haben Sie Ihre Sommerpläne wegen der Corona-Krise geändert?

Ich fahre im August nach Österreich, nämlich zum Stanglwirt nach Gols in Tirol.

Wie jedes Jahr, also keine Änderung.

Ich bin wie alle Rentner ferienmäßig unwiderrückbar verortbar. Da freue ich mich darauf. Ich hoffe, dass ich hinfahren kann, denn wenn die Regierung die Pandemie in Luxemburg nicht in den Griff kriegt, dann werden die Luxemburger die Ferien wohl zu Hause verbringen. Die Regierung hat bislang alles gut gemacht, aber jetzt geht es nicht in die richtige Richtung.

Wo wir noch einmal bei Luxemburg sind: Das Land gilt einigen mittlerweile als Corona-Risikogebiet. Eine Deloitte-Studie zeigte aber auch anderes auf, nämlich dass das Wohnen in Esch oder Differdingen teurer ist als in Brüssel oder Amsterdam. Ist Luxemburg nicht vor allem ein Risikogebiet für sozial schwächer Gestellte?

Ich beschäftige mich nicht nur rhetorisch, sondern auch aktiv seit vielen Jahren – die letzten Jahre dann eben nicht, weil ich von der Macht entfernt wurde gegen das Wählervotum – mit dem Wohnungsproblem. Ich habe einmal gesagt, das wäre mein größter Misserfolg. Darüber hat man sich in damaligen Oppositionskreisen ereifert. Und der Anspruch der jetzt Regierenden war, diese Wohnungsproblematik zu lösen – nichts ist passiert! Die drei Regierungsparteien wussten, wie man es machen sollte, als ich noch Regierungschef war. Dann sollen sie es machen – aber es passiert nichts!

Das Problem gab es allerdings auch schon damals …

Das sage ich ja, es war ein großes Problem damals, aber es wird ein immer größeres Problem. Vieles hat mit dem Preis des Baulandes zu tun. Es sind aber nicht die Russen oder die Chinesen oder sonst eine fremde, Luxemburg feindlich gesinnte Großmacht, die da die Baupreise verteuern. Das sind die Luxemburger! Die Luxemburger beuten Luxemburger aus. Das habe ich schon mal gesagt in öffentlicher Rede und wurde dafür beschimpft, es stimmt aber immer noch. Luxemburger sind schuld an der Misere anderer Luxemburger. So ist das, so bleibt das. Es täte mir gut, wenn die Regierung diese Einsicht teilt. Tut sie aber nicht. Meine Frage: Wieso nicht?

J.C.Kemp
20. Juli 2020 - 9.03

Mit der Aussage zum Wohnungsbau hat der frühere Regierungschef mal wieder eine Gelegenheit verpasst, in Scham zu schweigen. Die Bilanz des seit ewigen Zeiten CSV-geführten Ministeriums haut jeden um.

Jangeli
19. Juli 2020 - 8.09

Der Mann hat vielleicht etwas Anmesie, oder ein Errinerungsproblem, ist ja bekannt, alles war zu seiner Amtszeit Chefsache, der Luxusbürger wurde auch schon in seiner Regierungszeit stark ausgebeutet, diese Aussagen sind lamentabel und unpassend von einem früheren "Premier".

Swing-wieler
19. Juli 2020 - 1.16

Den Här Juncker soll senger Partei emol a d‘Gewessen rieden. D‘CSV war et dach dei no Lockerungen vum Lockdown regelrecht gejaut huet . Haut welle se dovunner neischt mei wessen. Sie haten deemols keng Alternativen an hun och haut nach keng ausser e bessi Gesabbels an Gep(w)olters. Dat ass keng seriös a konstruktiv Oppositiounspolitik. A wann ech dei meeschtens jämmerlech Interventiounen vun hieren Deputeierten an der Chamber gesinn da kann ech just de Kapp reselen. Sie sollen ophalen ze wolteren an ze spautzen soss gin se emmer mei onwielbar.

Paul
18. Juli 2020 - 20.45

Was interessiert mich Herrn Junckers Urlaub? Ich kann mir keinen leisten! Ich weiß nicht mal, ob ich meine nächste Miete zahlen kann. Bei seinen Rentenbezüge hat der feine Herr wohl keine Existenzsorgen!

Jemp
18. Juli 2020 - 20.11

Wohnungsbau war 10?Jahre Chef-JUNCKER-Sache! Schon vergessen? Sollte den Ball mal lieber flach halten und ein Eingeständnis SEINER eigenen Fehler und Versäumnisse machen!

roderes
18. Juli 2020 - 13.14

Na gut, dass es keine 2. Welle Juncker gibt, die erste war schlimm genug.

Knutschfleck
17. Juli 2020 - 20.02

1. Ech géif vlait an den letzebuerger Verwaltungen mol 1-2 EU-Responsabler astellen, déi sech haptsächlech em d'EU Conciliatioun bekemmeren. Momentan leeft et jo sou dass d'Chef de département all Mount e puer Mol op Bréissel lafen mussen an dowenst kennen se hei zu Letzebuerg hieren eegenen Service net méi. 2. Bei enger Kompetenzerweiderung vun der EU op national Gesondheet, misten eigentlech och d'EU-Gehälter bezuelt ginn. 3. Vlait mist d'Vollek vun der EU de Kommissiounspräsident selwer wielen amplatz d'Parlament 4. Wéi emmer d'Uspillung un d'Nazien fir d'EU irgendwéi ze rechtfertegen. Et fenkt einfach un langweileg ze ginn. Heinsto mengt een de ganzen Stolz vun der EU ass d'Iwwerwannung vun den Nazien 5. Wann d'EU well méi transparent sinn, kéinten se mol eng Lescht opstellen wen eigentlich a wéiengen politeschen Beräischer kompetent ass, d'national Regierung oder d'EU. Mir kent et fir wéi wann se selwer net wessen wen a wéiengen Froen responsabel ass.

de Schmatt.
17. Juli 2020 - 18.59

Im Nachhinein ist man immer klüger. Als Regierungschef im Ruhestand und nach Berlaymont, hat Juncker gut reden. " Luxemburger sind schuld an der Misere anderer Luxemburger". War das nicht auch schon der Fall zu seiner Zeit als Premier?

Nous
17. Juli 2020 - 13.04

Wieder mal gesehen, wie gut es ist, dass der weg ist.

Jangeli
17. Juli 2020 - 9.15

Herr Juncker hat schon Recht mit seiner Aussage, kritisiert jetzt,war aber lange Zeit dabei und hat trotzdem als Chef nicht das Richtige unternommen, hatte nicht den Mut gehabt um Freunden weh zu tun, Z.B. Wohnungsproblem.

J.Scholer
17. Juli 2020 - 7.51

Offener könnte ein Interview nicht sein, ein Politiker in der Tradition eines Norbert Blüm. Leider fehlen uns immer mehr solche Politiker, egal welcher Couleur , die Fehler eingestehen, die das Soziale , nicht nur der Schönrede willen, in den Vordergrund stellen .