Luxemburg im September 2008: Ein gewaltiges Beben kündigt sich an

Luxemburg im September 2008: Ein gewaltiges Beben kündigt sich an

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Ende September 2008 wurde Luxemburg heftig von der weltweiten Finanzkrise getroffen. Die Nerven der Banker lagen blank. Die schlimmsten Vorstellungen gerieten plötzlich in den Bereich des Möglichen. Die Kunden machten sich Sorgen um ihre Spareinlagen – bei so mancher Bank standen sie Schlange, um ihr Geld abzuheben und es in Sicherheit zu bringen. Die Luxemburger Regierung musste innerhalb von wenigen Tagen mit Milliarden einspringen, um zwei der größten und wichtigsten Banken des Landes zu retten. 

Die Finanzexperten selbst haben das Vertrauen in ihre eigene Branche verloren. „Die Mehrheit der Banker in Luxemburg erwartete damals, dass es im Finanzsystem zur Kernschmelze kommen würde“, erinnert sich Jean-Jacques Rommes, damaliger Direktor der Luxemburger Bankenvereinigung ABBL. „Es herrschte eine wirklich schlechte Stimmung.“

„Die Banker wissen, was für eine Katastrophe ein Zusammenbruch des Finanzsystems bedeutet hätte“, so Rommes weiter. „Man erhält kein Geld mehr, Gehälter werden nicht mehr ausbezahlt … Im Gegensatz zu der Öffentlichkeit war ihnen bewusst, wie gefährlich es wirklich werden konnte. Sie wissen, was es bedeutet, wenn Zentralbanken (am Interbankenmarkt) einspringen müssen, weil sich die Banken gegenseitig nicht mehr vertrauen.“

Ende September 2008, vor genau zehn Jahren, passierte das Undenkbare: Die ein Jahr zuvor in den USA ausgebrochene Finanzkrise schlug mit voller Wucht in Luxemburg ein.

In der Serie „Die Banken im Sturm“ will das Tageblatt daran erinnern, was sich im Herbst 2008 in Luxemburg abgespielt hat. Als Quellen für die Artikel der Serie dienen Gespräche mit zahlreichen Zeitzeugen sowie Zeitungsartikel und Geschäftsberichte von damals.

„Die Banken im Sturm“ erscheint täglich im Tageblatt und auf Tageblatt.lu.

Menschenschlangen vor britischen Banken

„Ich hatte wirklich große Angst, dass es zu einem Run auf die Konten kommen könnte – und das gleich bei mehreren Banken“, erzählt Rommes weiter. „In den Wochen zuvor hatte man in den Medien bereits spektakuläre Fotos von Menschenschlangen vor britischen Banken gesehen. Das alles erzeugt ein Klima am Rande der Panik.“ Und auch in Luxemburg haben schließlich während zwei, drei Tagen panikartige Zustände in den Räumlichkeiten einiger Schalterbanken geherrscht.

Im Fokus der Nervosität in Luxemburg stand an dem Freitag vor zehn Jahren die BGL (damals: Fortis Luxembourg). Sie war seit dem Jahr 2000 Teil der Fortis-Gruppe. Und diese „stand gewissermaßen nur auf einem Bein“, erinnert sich Jean Guill. Er war damals Schatzmeister im Luxemburger Finanzministerium und somit zuständig für die Finanzbedürfnisse des Landes. „Und dann schlug die Krise voll zu.“

Nur ein Jahr zuvor, als das Gewitter in den USA bereits begonnen hatte, herrschte bei Fortis noch großer Optimismus. Man wollte weiterwachsen, zu den Größten zählen. Ende 2007 lieferte man sich einen Bieterkampf, um die niederländische Großbank ABN Amro zu kaufen. Gemeinsam wollten Royal Bank of Scotland, Banco Santander und Fortis rund 71 Milliarden Euro auf den Tisch legen, um das Traditionshaus zu erwerben und unter sich aufzuteilen.

Fortis im Zentrum der Nervosität

„Doch die drei Banken konnten die Übernahme nicht zeitig stemmen“, so Guill, der einige Jahre nach der Krise Chef der Luxemburger Aufsichtsbehörde des Finanzsektors wurde, weiter. Mit anderen Worten: Es fehlte an liquiden Mitteln, um alle Forderungen zu begleichen.

„Zum Ende des Monats September hatten viele Angst um ihre Sparguthaben bei Fortis, selbst in Luxemburg.“

Jean Guill, vor zehn Jahren Schatzmeister
im Finanzministerium

Auf dem Papier ergaben die Überlegungen Sinn. Um ganz Benelux abzudecken, brauchte Fortis noch ein Netz von Bankfilialen in den Niederlanden – und niemand verfügte über ein besseres als die ABN Amro. Fortis selbst sollte 24 Milliarden Euro zahlen.

Finanztechnisch schien es gewagt, aber machbar: Der eigenen Rechnung zufolge sollten die zusätzlichen Gewinne und Einsparungen es ermöglichen, den Kaufpreis in zehn Jahren zurück zu erwirtschaften. Fortis fühlte sich stark. Immerhin hatte die Gruppe im Jahr 2006 noch einen Gewinn von 4,4 Milliarden eingefahren. Zudem hatte man Ende 2007 eine Kapitalerhöhung von 13 Milliarden Euro getätigt.

Ohne Krise hätte es klappen können. Doch in den USA war, nach Jahren des Booms, der Immobilienmarkt in eine Notlage gerutscht. Wegen der Rezession konnten viele Hauskäufer ihre Kredite nicht mehr bedienen – während die Immobilien gleichzeitig an Wert verloren. Diese Immobilienkredite waren in sogenannten Subprime-Anleihen gebündelt und in die halbe Welt verkauft worden – mit ernsthaften Folgen für die Märkte. Die Papiere waren plötzlich wertlos. Niemand wollte sie mehr kaufen. Niemand wusste mit Sicherheit, welche Kredite in den einzelnen Wertpapieren drin waren. Wer noch welche besaß, hatte Pech und musste sie abschreiben.

Fortis wurde von der Krise gleich mehrmals getroffen. So sprudelten die Gewinne nicht mehr wie gewohnt, während sich Verluste in Höhe von mehreren Milliarden aus dem Subprime-Bereich ansammelten. Zudem wurde es sowohl für Fortis als auch für andere Banken immer schwieriger und teurer, sich mit dem täglich notwendigen liquiden Geld an den Märkten zu versorgen. Gerade Finanzinstitute hatten viel Geld in den Subprime-Bereich investiert. Da aber niemand Genaues wusste, begannen die Banken, sich gegenseitig zu misstrauen.

Bereits seit August 2007 stiegen die Zinsen am Interbankenmarkt (wo sich Banken gegenseitig kurzfristig Geld leihen) langsam an. Höhere Zinsen bedeuten in dem Fall, dass das Kreditausfallrisiko gestiegen ist und der Kreditgeber mehr Entlohnung für das Risiko will, das er eingeht. Für den, der Geld leiht, bedeutet es: höhere Kosten.

Zeichen werden lange Zeit nicht erkannt

Doch die Zeichen, dass eine große Krise am Kommen war, wurden lange Zeit nicht wahrgenommen. Selbst beim Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers Mitte September 2008 „war noch nicht klar, dass dies zum Zusammenbruch von Fortis und Dexia führen könnte“, so Jean-Jacques Rommes heute. „Das war völlig ungeahnt.“ Im gleichen Zusammenhang sei auch nicht klar gewesen, dass die Subprime-Krise die europäischen Banken und Volkswirtschaften derart in Mitleidenschaft ziehen würde. „Immerhin unterstrichen die europäischen Politiker unisono, es handle sich um eine US-Krise.“
Anfangs rollte die Krise gemächlich herbei. „Erste Zeichen dafür, dass sich eine Krise zusammenbraute, kamen bereits 2007 aus den USA“, erinnert sich Jean Guill, der damals zuständig für die Verwaltung der Staatskasse war, heute. „Auch in Europa machte man sich Sorgen. So war etwa die deutsche IKB Bank stark im Bereich Subprime aktiv. Ein fernes Donnergrollen war zu hören.“

„Die Mehrheit der Banker in Luxemburg erwartete, dass es nun im Finanzsystem zur Kernschmelze kommen würde. Es herrschte eine wirklich schlechte Stimmung.“

Jean-Jacques Rommes, vor zehn Jahren Direktor der ABBL

Im September 2007 brach die britische Bank Northern Rock zusammen. Bilder von Menschen, die in Großbritannien vor den Bankfilialen Schlange stehen, um ihr Geld abzuheben, gingen um die Welt. Es war der erste Bank Run (wenn Kunden in die Bank stürmen, um ihr Geld abzuheben) in Großbritannien seit mehr als 100 Jahren.
Im Jahr 2008 legte die Krise an Intensität weiter zu. Vertrauen blieb Mangelware. Die Aktienkurse gaben weiter nach. Im März erklärte die US-Bank Bear Stearns, Liquiditätsprobleme zu haben. Um eine Insolvenz zu vermeiden, griff die US-Notenbank Fed mit milliardenschweren Finanzgarantien ein. Tags darauf brach der Aktienkurs von Bear Stearns um fast die Hälfte ein. An den Märkten machte sich Panik breit. Im Juli der nächste große Eingriff: Nur mit milliardenschweren staatlichen Notkrediten konnten die beiden US-Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac vor dem Bankrott bewahrt werden. Doch nicht jede Bank wurde überrascht. Pol-Henry Bonte, der bei der BNP Paribas in Brüssel tätig war und später bei den Verhandlungen um Fortis Luxembourg dabei war, sagt heute: „Wir haben gespürt, dass eine Krise kommt. Bereits 2007 wurden zwei Fonds der Bank eingefroren. Es gab vereinzelte Schwierigkeiten. Aber nach und nach wurde die Situation komplizierter. Der Zugang zu Krediten blieb jedoch offen. Noch bis Mitte 2008.“ Dass es aber eine derart heftige Krise geben würde, „das war nicht vorhersehbar“.

Nach Lehman bricht Panik aus

Was nun den damaligen Besitzer der BGL, die Fortis-Gruppe, angeht, so „war uns bereits im Juni ziemlich klar, dass das Institut Probleme bekommen würde“, so Bonte weiter. Fortis hatte eine Kapitalerhöhung durchgeführt und die Dividende wurde gekürzt. „Entweder Probleme wegen eines Mangels an Kapital – oder wegen unzufriedener Aktionäre“, erinnert sich Bonte. Bereits damals habe BNP Paribas den Belgiern Gespräche vorgeschlagen – diese lehnten aber ab. „Sie waren zuversichtlich, die Übernahme stemmen zu können.“

„Es brach Panik aus.“

Pol-Henry Bonte, damals Investmentbanker bei BNP Paribas in Brüssel

Am 15. September folgte der neue Höhepunkt der Krise. Die US-Investmentbank Lehman Brothers war pleite. Und zum Schock vieler Banker entschied sich die US-Regierung gegen eine Rettung. Es sollte ein Exempel statuiert werden, ganz nach dem Motto: Auch Banken müssen für sich selbst verantwortlich sein. Es wird nicht jede gerettet. Diese Entscheidung war philosophisch wohl richtig – entfachte aber die Krise. Ohne den Staat als möglichen Retter war das Vertrauen in die Finanzbranche komplett hin.

„Es brach Panik aus“, so der heute 48-jährige Bonte. „Man fragt sich: Wer wird der Nächste sein?“ In den Folgetagen „herrschte Endzeitstimmung. Es war die Hölle für jedermann.“ Auch an den Märkten herrschte die blanke Angst. Die Aktienkurse (auch von Fortis und Dexia) fielen immer tiefer.

Der Interbankenmarkt trocknete nun ganz aus. Keine Bank wollte einer anderen mehr Geld leihen. Das Risiko einer Nicht-Rückzahlung war zu groß geworden. Die Angst vor einer Ansteckungsgefahr ging um: Zahlt eine Bank ihre Schulden nicht zurück, dann sitzt die nächste auf einem gewaltigen Problem. Kann sie sich zudem auf dem Markt kein frisches Bargeld besorgen, dann wird die nächste Rechnung oder der nächste Kunde, der sein Sparkonto auflöst, zum weiteren Problem. Die Banken verfügten zwar über Reserven (etwa Immobilien), jedoch wird für deren Verkauf Zeit benötigt. Und da Zeit Mangelware war, konnten Wertpapiere höchstens mit großen Verlusten abgestoßen werden.

Krise gewinnt an Geschwindigkeit

Und gerade in dem Moment brauchte Fortis Geld. Es galt, die Rechnung der Übernahme von ABN Amro zu bezahlen. Zudem mussten einige neue, krisenbedingte Löcher gestopft werden. Mitten in der Krise. Fortis hatte sich übernommen.

Schlag auf Schlag ging es weiter. Die Krise gewann an Geschwindigkeit. Es wird nicht einmal mehr zwei Wochen dauern, bis am Freitag, den 26. September 2008 auch am Finanzplatz Luxemburg Menschen vor Bankfilialen Schlange stehen, weil sie Angst um ihre Ersparnisse haben. „Zum Ende des Monats September hatten viele Angst um ihre Sparguthaben bei Fortis, selbst in Luxemburg“, erinnert sich auch Jean Guill. „An zwei Tagen Ende des Monats, donnerstags und freitags, hat die Lage sich wirklich schnell zugespitzt, weil stellenweise viele Kunden ihr Geld abhoben.“

Auch für das Management der Bank sowie für die Aufsichtsbehörden und für die Politik war klar: Es muss etwas geschehen. Ohne Unterstützung von außerhalb wird Fortis den kommenden Montag nicht überleben. Tausende Jobs, Milliarden Sparguthaben und selbst das Funktionieren der Wirtschaft standen auf der Kippe. Aus der einst amerikanischen Krise war eine belgische – und eine Luxemburger – Krise geworden.

Auch den luxemburgischen Behörden ist klar, dass etwas passieren muss. Die ehemalige BGL ist nämlich Teil der Fortis-Gruppe. Und die Liquidität der gesamten Gruppe wird zentral von Brüssel aus verwaltet. Falls Fortis umfällt, wird Fortis Luxemburg mit fallen. Ein internationaler Verhandlungsmarathon beginnt. Doch mehr dazu morgen.

 

Warum BNP nicht im Subprime-Sumpf versank

Im Gespräch mit dem Tageblatt hebt Pol-Henry Bonte hervor, dass vor zehn Jahren nicht jede große Bank im Subprime-Sumpf versickerte. Insbesondere nicht die BNP Paribas. Hintergrund war ein funktionierendes Risikomanagement. „Frankreich hatte damals ein AAA“, erinnert sich Bonte. Die Subprime-Papiere auch. „Trotzdem wurden bei Subprime-Papieren höhere Margen (Zinssätze) geboten als für französische Schuldscheine. In Paris verstand man den Unterschied nicht“, erklärt er. Da bekannt war, wie die Ratingagenturen arbeiteten, sagte man sich: „Wenn Subprime mehr bezahlt, dann ist es kein AAA. Wenn wir etwas nicht verstehen, dann machen wir es nicht.“ Das sei schon immer die Philosophie der BNP Paribas gewesen.


Lesen Sie hier Teil 1 unserer Serie: 

Ein gewaltiges Beben kündigt sich an

 

Lesen Sie hier Teil 2 unserer Serie: 

Über Fortis bricht das Dach zusammen

 

Lesen Sie hier Teil 3 unserer Serie: 

Volles Risiko bei der Fortis-Rettung