LuxemburgKritik in fünf Punkten: Ethikexperte Erny Gillen analysiert Deontologiekodex für Regierungsmitglieder

Luxemburg / Kritik in fünf Punkten: Ethikexperte Erny Gillen analysiert Deontologiekodex für Regierungsmitglieder
Gesundheitsministerin Paulette Lenert (links) und Premier Xavier Bettel (Mitte) bei einer Chamber-Sitzung im Januar Archivfoto: Editpress/Julien Garroy

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Neue Verhaltensregeln für Regierungsmitglieder und hohe Beamte: Auf den ersten Blick eine gute Sache. Der Luxemburger Ethikexperte Erny Gillen hat sich näher mit dem neuen Deontologiekodex beschäftigt und meint: „Es ist ein weiterer wichtiger und positiver Schritt Richtung moderner und professioneller Verwaltung.“ Dennoch hat der Experte fünf Kritikpunkte, die er im Tageblatt erläutert.

Die professionelle Verwaltung

„Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass eine professionelle Einheit wie eine Staatsverwaltung und eine Regierung einen Deontologiekodex hat“, meint der Luxemburger Ethikexperte Erny Gillen zu den am 14. März publizierten Regeln für Regierungsmitglieder und hohe Beamte. „Dass das in Luxemburg eine Nachricht wert ist, ist erstaunlich und weist darauf hin, dass es bisher an Professionalität gefehlt hat.“ Zahlreiche Berufsgruppen und Unternehmen würden schon seit längerem einen Ethikkodex besitzen. Auch die Umstände, wie die Texte zustande gekommen sind, kritisiert Gillen im Gespräch mit dem Tageblatt. „Dieser Text ist ja eigentlich auf Druck des Greco-Gutachtens (,Groupe d’Etats contre la corruption‘, Anm. der Red.) entstanden“, sagt Gillen. „Es war nicht zuerst eine Eigeninitiative oder gar der gute Wille, die dazu geführt haben, dass sich Luxemburg diese Regeln nun erst gibt.“

Der Entstehungsprozess

Auch die Art und Weise, wie die Deontologie-Regeln bestimmt wurden, sei wichtig, erklärt Erny Gillen. „Wenn man einen solchen Kodex aufstellt, kommt es auch auf den Entstehungsprozess an“, sagt Gillen. „In einem Unternehmen wird beispielsweise die betriebsinterne Philosophie und Denkweise festgehalten.“ Solche Regelungen werden in der Regel in einem partizipativen Prozess aufgestellt. Beim vorliegenden Text handele es sich jedoch um eine rein technische Arbeit, bei der sich an den Empfehlungen und Rückmeldungen des Greco orientiert wurde. „Ob in der Regierung und in den Verwaltungen aber tatsächlich ein solcher Prozess stattgefunden hat, um sich an bestimmten Werten festzuhalten und bewusst nach außen zu tragen, weiß ich nicht“, sagt Gillen.

In der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) sei schon Ende des letzten Jahrhunderts festgehalten worden, dass sich eine öffentliche Verwaltung eine „ethische Infrastruktur“ geben müsse. „Das ist ein scheußliches Wort, deutet aber an, dass es sich um etwas Zusammenhängendes handeln muss“, sagt Gillen. „Das Luxemburger Parlament hat seine Regeln, die Polizei die ihren, genau wie jetzt die Regierung ihre eigenen Regeln hat.“ Das sei alles unter einem Impuls von außen geschehen. „Eigentlich müsste man sich zuerst ein paar grundethische Fragen stellen.“  Dieser Überbau aber fehle komplett.

Die Umsetzung der Ethikregeln

Bei der Umsetzung kommt es auf die Kultur an und nicht nur auf die technische Umsetzung an. „Es soll keine Checkliste sein, auf der man einen Punkt nach dem anderen schnell abhakt“, sagt Erny Gillen. „Es sollten Sinngespräche geführt werden.“ Ähnlich wie ein Journalist sich beim Verfassen seiner Artikel fragen müsse, was richtig und was falsch ist und nicht einfach irgendwo abschreibe. Es ist wichtig, eine Betriebskultur bewusst zu fördern und zu pflegen.

Eine Kritik, die an dieser Stelle an die neuen Ethikregeln gerichtet werden kann, ist, dass sich der Kodex zu stark und einseitig an die individuellen Minister oder hohen Beamten richtet. Dabei seien die meisten Verwaltungsvorgänge keine Einzel-, sondern Gruppengeschehen. Es ist nicht nur eine Person, sondern eine Gruppe und manchmal auch mehrere Verwaltungen, die an diesen Vorgängen beteiligt sind – und da spiele die Gruppenintegrität eine große Rolle. In dem Sinne funktioniere ein Kodex, der an Einzelpersonen gerichtet sei, nur bedingt. „Es bleibt bei einer Formalie, ohne den Inhalt genau zu thematisieren.“ Es sei mit dem vorliegenden Kodex jedoch ein wichtiger Grundstein gelegt worden – und zumindest die Implementierung könne ja noch partizipativ gestaltet werden.

Der Luxemburger Ethikexperte Erny Gillen hat seine Studien in Luxemburg, Belgien und der Schweiz abgelegt und hat unter anderem bei der Ausarbeitung des Verhaltenskodex der Luxemburger Armee mitgewirkt
Der Luxemburger Ethikexperte Erny Gillen hat seine Studien in Luxemburg, Belgien und der Schweiz abgelegt und hat unter anderem bei der Ausarbeitung des Verhaltenskodex der Luxemburger Armee mitgewirkt Foto: Editpress-Archiv

Ob denn nicht im Vorfeld habe geklärt werden müssen, wer alles unter die Bestimmungen eines Deontologiekodex fallen solle? „Doch, die Frage nach dem Perimeter dieser Operation hätte geklärt werden müssen“, sagt Gillen. „Da der Prozess aber von außen angestoßen wurde, wurden diese höchst sensiblen Fragen auf den ersten Blick wohl nicht systematisch erörtert.“ Letztendlich müsse man sich auf den eigentlichen Sinn der deontologischen Regeln besinnen. Es gehe ja darum, dass eine Verwaltungseinheit, in diesem Fall Minister oder die staatlichen Administrationen mehr Macht haben als ihre „Kunden“, also der Bürger. Die selbstverpflichtenden Regeln würden dafür sorgen, dass die unausgeglichenen Machtverhältnisse nicht dazu führen, dass der Bürger den Kürzeren zieht. Basis dafür sei die Unbestechlichkeit und Integrität aller Beamten – weshalb es letzten Endes Ethikregeln brauche.

„Schlussendlich ist eine festgelegte Schuldengrenze ebenso wie die Frage, wie viele Beamten sich den Ethikregeln verpflichten müssen, aber zweitrangig“, sagt Gillen. Eigentlich will man dem Bürger ja versichern, dass eine nicht korrupte und integre Verwaltung existiert, die sich die nötigen Möglichkeiten gibt, als eine solche zu funktionieren. Dass aber weiterhin viele Unklarheiten bestehen, beweist, dass der eigentliche Sinn der Operation verfehlt wurde.

Das Ethikkomitee

„Bisher hat das Ethikkomitee aus drei Personen bestanden – zukünftig sollen es mindestens drei sein“, erklärt Erny Gillen. Bei den für das Ethikkomitee vorgesehenen Aufgaben aber komme eine Unmenge an Verwaltungsarbeit auf das Komitee zu. „Andere Staaten schaffen dafür hauptberufliche Instanzen und kein Komitee, das mit einigen Beamten des Staatsministeriums versucht, diesen Aufgaben so nebenher nachzukommen.“ Bereits die Greco hat angemerkt, dass die nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. In anderen Bereichen wie der Gleichstellung oder der Arbeitssicherheit werden jeweils Verantwortliche ernannt. Wo bleibt die verantwortliche Person für die Deontologie?

„Ich muss zudem beanstanden, dass das Komitee einem zahnlosen Tiger gleichkommt: Es kann nämlich keine Sanktionen erteilen“, sagt der Ethikexperte. „Das einzige Druckmittel besteht darin, Gutachten zu veröffentlichen.“ Es liege dann am Bürger, den nötigen öffentlichen Druck aufzubauen und Konsequenzen zu erwirken. So aber werde der Eindruck erweckt, dass der Staat, seine Minister und Beamten sich dem eigenen Anspruch nicht unterordnen wollen, sondern darüber erheben. „Wenn man sich Regeln auferlegt, muss man sich daran halten – auch wenn es wehtun sollte.“

Die Governance-Frage

Eine Frage, die dem Gründer der Moral Factory auch nach Durchsicht des großherzoglichen Erlasses offen bleibt, ist die der Governance-Strukturen, die der Zuständigkeit. „In anderen Berufsständen gibt es gewählte Gremien, die die Einhaltung der Regeln überwachen“, sagt Gillen. „Das Ethikkomitee hat eine halbherzige Überwachungsfunktion, ohne Sanktionsmöglichkeiten, bekommen.“ Oder anders ausgedrückt: „Die Frage der Deontologie ist in Luxemburg eher eine Frage der Compliance.“

Die amerikanische Regierung habe beispielsweise ein „Ethics Office“ geschaffen. Wenn ein Minister oder auch der Präsident seine Kompetenzen überschreite, müsse er dem „Ethics Office“ Rechenschaft ablegen. Hier könne man auch von einer Institutionalisierung der Ethik sprechen – und nicht wie in Luxemburg von der „Verfrachtung der Ethik in eine Arbeitsgruppe“. Luxemburg würde die Schaffung etwa eines „House of Ethics and Integrity“, in dem die nationale Menschenrechtskommission oder auch die nationale Ethikkommission untergebracht werden könnte, gut zu Gesicht stehen, meint Erny Gillen.

Filet de Boeuf
8. April 2022 - 10.45

Linke Hand die Goldwaage, rechte Hand die Heugabel