AnalyseKrieg im Kaukasus: Ohne Feuerpause droht Bergkarabach eine humanitäre Katastrophe 

Analyse / Krieg im Kaukasus: Ohne Feuerpause droht Bergkarabach eine humanitäre Katastrophe 
Seit Ende September Alltag in Stepanakert: Menschen suchen in ihren Kellern Schutz vor Bomben  Foto: AFP/Aris Messinis

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Am Rande Europas herrscht wieder Krieg. Aserbaidschan greift mit Unterstützung der Türkei die selbsternannte, von Armeniern bewohnte Republik Arzach an. Armenische Truppen halten dagegen. Doch das Kräfteverhältnis ist ungleich. Ohne Feuerpause droht eine humanitäre Katastrophe.  

Zweimal war ich als Journalist in Armenien und Bergkarabach. Zuletzt Ende April, Anfang Mai 2016, kurz nach jenen Kämpfen, die bis vor zwei Wochen als die schlimmsten seit dem Ende des Krieges 1994 galten. Jetzt herrscht ein offener Krieg um Bergkarabach, zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die Gefahr einer regionalen Eskalation ist größer als je zuvor, die Angst vor ethnischen Säuberungen wieder präsent. 

Der Konflikt um Bergkarabach dauert bereits ewig, und eine kompliziertere Gemengelage ist schwer zu finden. Beide Seiten können ihren Kindern fürchterliche Geschichten von den Gräueltaten der anderen erzählen. Zwei Prinzipien des Völkerrechts stehen sich in dieser Ecke des Südkaukasus gegenüber, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, hier der ethnischen Armenier in Arzach, so die Eigenbezeichnung für Bergkarabach, und die territoriale Integrität und Souveränität von Staaten, in diesem Fall Aserbaidschan, auf dessen Staatsgebiet der selbsterklärte De-facto-Staat Republik Arzach liegt.

Ein Knoten, zurückzuführen auf eine Grenzziehung aus Sowjetzeiten, als Anfang der 1920er die Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien gegründet wurden und das bereits damals zu großer Mehrheit von Armeniern besiedelte Bergkarabach trotz Protesten der Sowjetrepublik Aserbaidschan einverleibt wurde. Das ging so lange halbwegs gut, wie die Sowjetunion Bestand hatte. Danach kam es zum Krieg, der 1994 mit einem Sieg Armeniens endete. Seitdem hält Armenien als Pufferzone beziehungsweise Schutzwall rund um Bergkarabach sieben weitere aserbaidschanische Provinzen besetzt. Hunderttausende Aserbaidschaner mussten in den frühen 1990ern von dort fliehen. Auch hierfür wird es eine Lösung brauchen. Krieg kann nicht das Mittel zur Vergangenheitsbewältigung sein.

Söldner aus Syrien, Kampfjets aus der Türkei

In diesen Stunden und Tagen wird in Bergkarabach nichts anderes gebraucht als ein Waffenstillstand. Ansonsten droht die humanitäre Katastrophe, die bereits geschieht, noch schlimmer zu werden – mit bislang unabsehbaren Folgen für Armenien und die ganze Region, vielleicht sogar darüber hinaus.

Seit rund zwei Wochen greift Aserbaidschan mit der moralischen Zusicherung und militärischen Unterstützung der Türkei Bergkarabach an. Die Indizien dafür, dass zwei türkische F-16-Kampfflugzeuge Attacken fliegen, verdichten sich, dass Hunderte, über private türkische Sicherheitsdienste angeheuerte Syrer als Kanonenfutter aufseiten der aserbaidschanischen Armee in die Schlacht geschickt werden, gilt inzwischen ebenso als belegt wie der Einsatz von Angriffsdrohnen, die im Militärjargon als Kamikaze-Drohnen bezeichnet werden, allerdings israelischer Bauart sind.

Ein zerstörtes Wohnhaus in Stepanakert am vergangenen 7. Oktober
Ein zerstörtes Wohnhaus in Stepanakert am vergangenen 7. Oktober Foto: AFP/Aris Messinis

Das Dauerfeuer auf Stepanakert, die Hauptstadt von Bergkarabach, intensiviert sich seit zwei Wochen. Schulen und Krankenhäuser wurden getroffen, Journalisten großer internationaler Zeitungen beschossen und teilweise schwer verletzt, Dutzende Zivilisten wurden getötet, rund die Hälfte der 150.000 Einwohner soll bereits auf der Flucht sein. Ein jahrzehntelanger eingefrorener Konflikt, der immer wieder aufflammte und den die internationale Gemeinschaft unter Leitung der USA, Russlands und Frankreichs nur halbherzig zu lösen versuchte, ist durch den Angriff Aserbaidschans wieder zum Krieg geworden. Die Türkei hat ihn durch ihre Einmischung erstmalig internationalisiert.

Auch auf aserbaidschanischer Seite gab es zivile Opfer nach Raketeneinschlägen in Wohnvierteln. 20 Menschen seien neben den militärischen Opfern bislang so ums Leben gekommen, heißt es aus Baku. Doch die Angriffswellen rollen in die andere Richtung, eine menschliche Katastrophe großen Ausmaßes droht nur der anderen Seite – und hat bereits begonnen.

Bergkarabach lässt sich nur über Armenien erreichen. Die selbsternannte Republik wird von keinem Staat der Welt anerkannt, aber von Armenien alimentiert. Wer einmal da war, darf nicht mehr nach Aserbaidschan. Wer einmal da war, weiß aber auch um die Schönheit dieser wilden Bergregion – und will sich nicht ausmalen, wie grausam ein Stellungskrieg in diesen teilweise noch aus dem Krieg in den 1990ern verminten Wäldern, Schluchten und Felsformationen sein muss.

Die Rückeroberung Bergkarabachs ist das ewige Versprechen der Alijew-Dynastie in Aserbaidschan. Seit 2003 herrscht Ilcham Alijew als Präsident autokratisch über das rohstoffreiche Land am kaspischen Meer. Wie es ebenso das ewige Versprechen der demokratischen Führer Armeniens ist, dieses Stück Land nicht wieder herzugeben. In Armenien war es vor zwei Jahren zu einer friedlichen Revolution gegen die als korrupt angesehenen Politeliten gekommen, aus der der jetzige Ministerpräsident Nikol Paschinjan als neuer Ministerpräsident hervorging.

Das Karabach-Versprechen und der Machterhalt

Aus dem Kampf um Bergkarabach nährt sich ein beträchtlicher Teil der Legitimierung der Macht der jeweiligen politischen Führer. Er ist auf beiden Seiten in Köpfe und Herzen der Menschen übergegangen. Doch Paschinjan tritt anders auf als seine Vorgänger, verfügt über eine viel breitere Rückendeckung in der eigenen Bevölkerung und gilt als eloquenter, glaubwürdiger, mutiger.

Im Juli dieses Jahres war es bereits zu Gefechten zwischen Aserbaidschan und Armenien weit nördlich von Bergkarabach gekommen. Vor allem der Tod eines aserbaidschanischen Generals sorgte für Aufsehen – so etwas geschieht nicht jeden Tag und so etwas lässt keinen Staat und keine Armee gut dastehen. Vor allem dann nicht, wenn die getroffene Seite die weitaus stärkere Seite ist, sowohl was die finanziellen wie die militärischen Mittel als auch die Bevölkerungszahl angeht. Paschinjan konnte sich als Sieger sehen, Alijew als Verlierer.

Ebenfalls im Juli wurde im Norden Syriens Recherchen des britischen Guardian zufolge mit der Rekrutierung von Kämpfern begonnen. Einigen dieser mittlerweile ausgehungerten syrischen Männer wurde demnach fälschlicherweise vorgemacht, ihr Auftrag in Aserbaidschan bestehe in der Überwachung von Pipelines. Andere hingegen können getrost als dschihadistische Kämpfer bezeichnet werden, wie von den Männern selbstgedrehte YouTube-Videos zeigen. Im Juli flog die Türkei auch sechs ihrer F16-Jets zu Übungszwecken nach Aserbaidschan. Wie Recherchen der New York Times jetzt aufdeckten, sind nur vier zurückgekehrt und zwei dieser Kampfflugzeuge weiterhin auf einem aserbaidschanischen Militärflughafen stationiert.

In Jerewan, der Hauptstadt Armeniens, verkaufen Kinder inzwischen ihr Spielzeug auf der Straße, um das Geld an die Truppen zu spenden. „Wenn eine Nation zur Armee wird, ist sie unschlagbar“, „wir sind alle bereit zu sterben“, egal, mit wem ich die vergangenen Tage in Armenien telefoniert habe, solche Aussagen waren immer dabei. Auf der anderen Seite sieht die Sache nicht anders aus.

Nikol Paschinjan, Premierminister von Armenien, rief den Kriegszustand aus
Nikol Paschinjan, Premierminister von Armenien, rief den Kriegszustand aus Foto: AP/Tigran Mehrabyandp

Der Kampf um Bergkarabach ist fester Bestandteil der Erzählung beider Nationen und somit der Identität ihrer Menschen. Die Armenier, die 1916 bereits einmal einen Völkermord im Ottomanischen Reich erleben mussten (anders als die allermeisten Forscher wehrt sich die Türkei gegen diese Bezeichnung), haben Angst, sie fürchten wieder um ihr Leben. Angesichts der militärischen Schlagkraft, die sich auf der gegnerischen Seite auftürmt, kann das niemanden überraschen.

Ilham Alijew, Autokraten-Präsident Aserbaidschans, will Bergkarabach mit Hilfe syrischer Söldner zurückerobern
Ilham Alijew, Autokraten-Präsident Aserbaidschans, will Bergkarabach mit Hilfe syrischer Söldner zurückerobern Foto: dpa

Das Militärbudget Aserbaidschans ist mit 4,9 Milliarden Dollar im Jahr 2019 rund doppelt so hoch wie der gesamte Staatshaushalt Armeniens (2,44 Milliarden im Jahr 2016). Hinzu kommt jetzt die Unterstützung aus dem NATO-Staat Türkei – in einer Region, die Russland zu einem festen Bestandteil des eigenen Einflussbereiches zählt. Im Rahmen eines Sicherheitsvertrags unterhält Russland einen Militärstützpunkt in Armenien an der Grenze zur Türkei, verkauft jedoch sowohl an Baku wie an Jerewan Waffen.

Wie in Syrien und Libyen: Ankara versus Moskau 

Es wäre der dritte Konflikt nach jenen in Syrien und Libyen, in dem Moskau und Ankara unterschiedliche Kriegsparteien unterstützen. Nur der eiskalte außenpolitische Pragmatismus beider Staaten hat bislang eine Eskalation verhindert. Doch mit jedem weiteren Einsatz und jeder weiteren Expansionsstufe der Türkei, die Truppen im Irak, in Libyen und in Syrien unterhält, wird dieses Spiel unberechenbarer und gefährlicher. Russland grenzt an Aserbaidschan, Armenien grenzt an die Türkei. Und im Süden beider Staaten schaut Iran nervös zu, was bei seinen Nachbarn geschieht und wer sich dort alles einmischt. An diesem Kriegsschauplatz im Südkaukasus dürfte die rote Linie Moskaus überschritten sein, sollten die Gefechte auf armenisches Gebiet übergehen. Nördlich an Armenien grenzt Georgien, dann kommen bereits Russlands Problem-Republiken wie Inguschetien, Dagestan oder Tschetschenien. Ein Flächenbrand in der Region könnte auch den Nordkaukasus destabilisieren, das will und kann sich Moskau nicht leisten.

Bislang konzentrieren sich die aserbaidschanischen Angriffe vor allem auf Stepanakert. Doch die Ansagen aus Baku und auch die des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sind klar und deutlich und es gibt keinen Grund, ihre Absichten in Zweifel zu ziehen. Von Alijew wie von Erdogan heißt es, der Angriff werde erst mit der Rückeroberung Bergkarabachs ein Ende haben. Dort geht zurzeit unter Dauersirenengeheul weiter der Bombenhagel nieder, die verbliebenen Menschen verkriechen sich in ihren Kellern – und wünschen sich einen Waffenstillstand. Weil sie wissen, dass alles andere über kurz oder lang nur Vertreibung oder Tod bedeuten kann.

Harutyunyan
10. Oktober 2020 - 11.10

merci pour votre article, vous aidez aux chretienne combatre les terosistes