Corona-FrustGewalt bei Jugendlichen: Psychologin Barbara Gorges-Wagner wirbt für frühzeitige Hilfe

Corona-Frust / Gewalt bei Jugendlichen: Psychologin Barbara Gorges-Wagner wirbt für frühzeitige Hilfe
Wenn Kinder bis handgreiflich gegenüber Mutter (oder Vater) werden, ist es meist schon zu spät. „Diese Entwicklung fängt früher an“, sagt Psychologin Barbara Gorges-Wagner vom „Kanner-Jugendtelefon“. Ihr Rat: frühzeitig Hilfe beantragen.  Foto: dpa/Jan-Philipp Strobel

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Wegen der Beschränkungen und ausbleibenden Kontakte zu Gleichaltrigen haben Kinder und Jugendliche unter der Corona-Krise ganz besonders zu leiden. Ihnen fehlen die Ausgleichsmöglichkeiten, was sich wiederum in einem hohen Frustpegel niederschlägt und Gewaltpotenzial erzeugt. Damit Eltern nicht tatenlos zusehen müssen, sollen sie frühzeitig professionelle Unterstützung beantragen, rät Barbara Gorges-Wagner vom Elterntelefon (26 64 05 55).

Das Virus selbst kann Kindern und Jugendlichen zwar weniger anhaben. Dennoch gehören junge Menschen zu den größten Leidtragenden der sanitären Krise. Der psychologische Druck der Pandemie, Frust bei den Eltern, Angst um Freunde und Angehörige, Nachholbedarf in Schule und Ausbildung, fehlender Kontakt zu Gleichaltrigen – alles Faktoren, die ansonsten ausgeglichene Kinder und Jugendliche durchaus aus der Bahn werfen können. 

Tatsächlich wird die Krise für viele Familien zur Dauerbelastung und fördert jegliche Formen der häuslichen Gewalt. Auch wenn die Zahlen konstant geblieben sind, befürchten die Behörden eine Explosion bei den Dunkelziffern. „Rein zahlenmäßig konnten wir bislang keinen signifikanten Anstieg feststellen“, musste etwa eine Sprecherin der Luxemburger Polizei Anfang des Jahres auf Anfrage des Tageblatt hin feststellen.  „Allerdings müssen wir von einer hohen Dunkelziffer ausgehen.“

Eigentlich denken die Menschen beim Stichwort „häusliche Gewalt“ sofort an Männer, die ihre Frauen und Kinder physisch oder psychisch misshandeln. Doch lassen auch immer mehr Kinder ihren Frust an den Eltern oder Geschwistern aus.  In manchen Familien liegen die Nerven regelrecht blank. Zwar habe die Zahl der Telefonate nicht unbedingt zugenommen, meint Barbara Gorges-Wagner vom „Kanner-Jugendtelefon“ (KJT). Dafür aber die Intensität der Gespräche.

Heftige Familienkonflikte

„Die Gespräche sind länger und handeln oft von sehr heftigen Familienkonflikten. Es sind schon sehr schwierige Situationen dabei“, stellt die Direktionsbeauftragte fest. Ein Fazit, das für sämtliche Angebote des Hilfsdienstes gilt, das nicht nur das Kinder- und Jugendtelefon (116 111) betreibt, sondern auch Erwachsene über das Elterntelefon im Umgang mit ihrem Nachwuchs unterstützt.

Kontaktieren können Betroffene das Elterntelefon unter der Nummer 26 64 05 55. Dabei handelt es sich um ein „telefonisches Gesprächs-, Beratungs- und Informationsangebot, das Eltern und andere Interessierte in den oft schwierigen Fragen der Kindererziehung schnell, kompetent und anonym unterstützt“. Angesprochen werden Eltern, Großeltern, aber auch allgemein Menschen, die mit Kindern oder Jugendlichen zu tun haben und „Rat, Unterstützung und Anregung in belastenden Situationen“ benötigen.

„Alles anonym und vertraulich“, wie Barbara Gorges-Wagner mehrmals nachdrücklich unterstützt. Das ist wichtig, hilft es vielen Eltern, ein niederschwelliges Angebot in Anspruch zu nehmen, die sich ansonst nicht trauen würden. „In vielen Situationen haben die Eltern nämlich das Gefühl, versagt zu haben. Deshalb schämen sie sich auch, Hilfe in Anspruch zu nehmen“, so die Psychologin. Vielleicht einer der Gründe, weshalb die Zahl der Anrufe am Elterntelefon letztes Jahr sogar leicht zurückgegangen ist? Tatsächlich habe man unter der Nummer 26 64 05 55 im letzten Jahr weniger Anrufe bekommen. „Aber auch dort hat die Intensität der Gespräche enorm zugenommen. Und in fast allen Gesprächen hat Corona eine Rolle gespielt“, erklärt Gorges-Wagner.

Für den leichten Rückgang der Zahlen hat die Psychologin auch eine durchaus plausible, mögliche Erklärung parat: „Die Eltern haben nicht immer Zeit zum Telefonieren. Vor allem jetzt in Corona-Zeiten, wo Familien enger zusammen wohnen und es viel weniger Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten gibt, ist das gar nicht so einfach, wenn man mal in Ruhe länger telefonieren möchte, ohne dass der Nachwuchs es sofort mitbekommt.“

Fälle wie in Bonneweg oder Käerjeng hinterlassen auch bei den Betreibern und Mitarbeitern der Hilfstelefondienste einen bleibenden Eindruck. Ihr Bestreben ist es nämlich, es nicht so weit kommen zu lassen. Ob Corona bei der tödlichen Auseinandersetzung vor drei Wochen in Bonneweg, bei der ein Jugendlicher von Gleichaltrigen niedergestochen worden war, eine Rolle gespielt hat, wissen auch die Behörden nicht. Das gilt auch für die Beweggründe, die den jungen Johnny dazu brachten, die eigenen Eltern anzugreifen, woraufhin er in Käerjeng des Hauses verwiesen wurde und auf einem Spielplatz in der Nähe übernachten wollte. In beiden Fällen aber spielt Gewalt eine Rolle und Gefühle, die Jugendliche und junge Menschen nicht mehr zu bewältigen wussten.

Frühzeitig reagieren

Die Frage, ob und was die Eltern im Falle des 25-jährigen Johnny noch hätten ausrichten können, bleibt auch unbeantwortet. „In dem Alter ist der Zug meist schon abgefahren. Erziehen kann man Kinder ab einem gewissen Alter nur noch schwer“, weiß auch Barbara Gorges-Wagner. Deshalb ihr Rat an die Eltern, so früh wie möglich Hilfe in Anspruch zu nehmen.

In Corona-Zeiten steigt der Druck: „Die Situation spitzt sich zu, weil die jungen Leute keine Möglichkeiten zum Ausgleich haben. Sport oder Freizeitaktivitäten sind alle eingeschränkt. Weil so vieles wegfällt, steigen die Spannungen – auch bei den Eltern“, erklärt die Direktionsbeauftragte von KJT und Elterntelefon. Nicht selten stoße man dieser Tage am Telefon auf Eltern, die richtig verzweifelt seien. „Die gerade mit älteren Jugendlichen zu Hause ständig aneinander geraten, aber keinen Einfluss mehr haben. Das ist eine besonders schwierige Situation“, so Gorges-Wagner.

„Mit steigendem Alter hat man als Eltern aber immer weniger Einfluss auf die Erziehung“, gibt die Psychologin zu bedenken. Deshalb sei es wichtig, dass Eltern frühzeitig reagieren. Und die Gründe für das Verhalten zu erkunden versuchen. Vor allem in Situationen, in denen Kinder ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle haben, also Probleme mit Impulskontrolle an den Tag legen, sei es wichtig, schnell Hilfe bei einer Fachkraft zu holen.

Hier gilt: „Besser schneller abklären als zu spät“, so die Psychologin. Meist aber sehe man bei Eltern, dass sie selbst kein konsequentes Erziehungsverhalten besitzen und ihrem Kind bis dahin fast alles haben durchgehen lassen. „Das spitzt sich dann irgendwann zu. Wenn man dann sieht, dass das Kind nicht mehr zur Schule oder zur Arbeit will, nicht mehr im Haushalt mithilft, nur noch vor dem PC oder Fernseher hockt und bei der kleinsten Kritik aufbrausend wird, ist es fast schon zu spät. Diese Entwicklung beginnt oft viel früher.“

Wichtig sei es deshalb, dem Kind gegenüber konsequent zu bleiben und ein klares Erziehungsverhalten zu zeigen. Leider scheuen Eltern oft vor konsequentem Benehmen zurück, weil sie Angst haben, ihren Kindern zu schaden. „Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber“, betont Gorges-Wagner. Vielmehr sei jetzt professionelle Begleitung angebracht: „Sie sollen die Bindung nicht aufgeben, weiter an einem konsequenten Benehmen arbeiten. Und das schaffen Eltern oft nicht allein.“ Deshalb der Rat an die Betroffenen, Unterstützung anzufragen. Etwa beim Elterntelefon. „Oder bei anderen Familienberatungsstellen, von deren es in Luxemburg viele gute gibt“, erklärt die KJT-Leiterin.

Konsequentes Benehmen sei insbesondere bei Drogen- und anderen Suchtproblemen wichtig. Oft sei es gar wichtig, das Kind ganz loszulassen. „Das Kind muss selbst aus dem Teufelskreis der Sucht ausbrechen und sich helfen lassen wollen“, unterstreicht Wagner-Gorges. „Eltern fällt es aber schwer, das durchzuziehen und hart zu bleiben, weil sie tausend Ängste durchleben. Deshalb ist es auch in diesem Punkt wichtig, Rückendeckung in Form von professioneller Unterstützung anzufragen.“

Ein allgemein gültiges Rezept gegen Frust, Wut oder Gewalt beim eigenen Kind gibt es sicherlich nicht. Jeder Fall muss individuell betrachtet werden. „Doch lohnt es sich, sich helfen zu lassen, das Kind loszulassen“, unterstreicht Gorges-Wagner. „Damit es wieder auf die eigenen Beine kommt.“

de Prolet
18. Februar 2021 - 12.57

Die eh sehr tief angesiedelte Frustrationsschwelle wird in Corona Zeiten noch um ein Vielfaches strapaziert und die Kinder, die es gewohnt sind , dass ihnen meistens der Wille getan wird, müssen feststellen, dass dem auf einmal nicht mehr so ist und das ist frustrierend und macht aggressiv.

Charel HILD
17. Februar 2021 - 16.24

Wieso sollten wir nur auf die Kinder schauen? "Wegen der Beschränkungen und ausbleibenden Kontakte haben ALLE Menschen unter der Corona-Krise ganz besonders zu leiden. Der psychologische Druck der Pandemie, Frust , Angst und fehlender Kontakt – alles Faktoren, die JEDEN Mitmensch durchaus aus der Bahn werfen können." Das alles gilt für jeden von uns. Ganz besonders für ältere Menschen in den Heimen, dann für die echt "Vulnerablen". Die Probleme der Kinder sind im Vergleich dazu sehr gering. Übrigens: der gewalttätige Mensch ist nicht wegen Corona böse, er ist mit Corona böse.