EditorialForever delayed: Wieso die Kultur der Aktualität hinterherhinkt

Editorial / Forever delayed: Wieso die Kultur der Aktualität hinterherhinkt
 Foto: Vincent Lescaut

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Während der letzten Spielzeiten sah man plötzlich immer mehr Masken auf den hiesigen Theaterbühnen. Meist handelte es sich um eine etwas hilflose Art, längst geplanten Aufführungen den pandemischen Aktualitätsbezugs-Stempel quasi a posteriori zu verleihen – und oft verstand der oder die Zuschauer*in nicht so recht, wieso diese*r oder jene*r Schauspieler*in urplötzlich mit einer FFP2-Maske auf der Bühne stand.

Ich erinnere mich, dass eine Regisseurin im Gegenzug meinte, es wäre verfrüht, jetzt schon Kunst über die Pandemie zu machen, der notwendige Abstand fehle noch. Die Idee, dass das Aufarbeiten des Erlebten in der Kunst etwas Distanz braucht, ist nicht neu – so meinte bereits Thomas Mann, man könne erst über die Liebe schreiben, wenn sie bereits abgeklungen sei. Falsch ist das sicherlich nicht, und die paar Corona-Bücher, die im Eifer des Lockdowns verfasst wurden, zeugten davon, dass Distanz oft notwendig ist.

Nun befinden wir uns aber in einer Situation, in der sich die Krisen so sehr gehäuft haben, dass ein Theaterstück über Lockdown und Corona inmitten des Krieges in der Ukraine, der daraus folgenden ökonomischen Konsequenzen für Europa und in Zeiten von Waldbränden, Überschwemmungen und, ja, Liz Truss, nur noch müde belächelt würde.

Damit Kulturprodukte etwas zu den Debatten im öffentlichen Raum beitragen können, muss folglich schneller reagiert werden, auch wenn das Risiko besteht, dass die daraus entstehenden Werke etwas fragmentiert oder orientierungslos wirken – denn wir leben zurzeit in einer Welt, die genauso ist: fragmentiert und orientierungslos.

Im Gegensatz zu dieser kulturellen Trägheit stehen einige Werke wie „Reflection“ von Valentyn Vasyanovych, „Le mage du Kremlin“ von Giuliano Da Empoli oder auch Jérôme Salles Thriller „Kompromat“, die kurz vor dem Ausbruch des Krieges einige der Gräuel des russischen Regimes darstellten und im Rahmen ihrer jetzigen Veröffentlichung quasi prophetisch wirken.

Diesen Verzug findet man auch im Programm der Kulturhauptstadt: Bereits bei der Eröffnung im Februar zeigten sich viele empört über den Raketenstart, der im Kontext der kurz davor begonnenen russischen Invasion der Ukraine einen mehr als bitteren Beigeschmack hatte.

Klar, eine Programmierung, speziell wenn es sich um ein solch großes und ambitioniertes Projekt handelt, kann man nicht einfach umkrempeln, nur weil die Realität mal wieder noch etwas unschöner geworden ist. Aber hätte sich die Kulturhauptstadt von Beginn an politischer, aktualitäts- und geschichtsbezogener gegeben, hätten die Produktionen quasi automatisch etwas über das momentane Weltgeschehen auszusagen.

Betrachtet man einige der Produktionen, die das damals von Andreas Wagner und Janina Strötgen erstellte Bidbook für die Kulturhauptstadt geplant hatte – zum Beispiel das Projekt über den Luxemburger Besuch der Ceausescus unter dem kommunistischen Escher Bürgermeister Arthur Useldinger –, denkt man unweigerlich daran, dass hier eine Chance verspielt wurde, in der Kunst darzulegen, dass unsere Demokratie nie vor Tyrannei und ideologischer Blindheit geschützt ist.

Aus diesen Gründen kann ich mit meinem werten Kollegen Marco Goetz nicht ganz einverstanden sein, der gestern in seinem Editorial dem Vorwurf, Esch22 würde mit dem Geld des Steuerzahlers finanziert werden, entgegensetzte, viele andere Sachen, deren Nutzen man persönlich nicht einsehe, würden ja auf die gleiche Art finanziert.

Ja, auch ich brauche nicht unbedingt ein mit öffentlichen Geldern finanziertes Schwimmbad. Bei Esch22 erhält man hingegen doch manchmal den Eindruck, um die Metapher weiterzuspinnen, als hätte man viele öffentliche Gelder in ein Schwimmbad gesteckt, in dem man so einiges machen kann – aber nicht schwimmen. Dabei soll Kultur uns doch gerade helfen, in einer zunehmend komplizierten Welt den Kopf über Wasser zu halten.