LuxemburgEinblicke aus erster Hand: Joanne Theisen erklärt die Vielschichtigkeit von Autismus

Luxemburg / Einblicke aus erster Hand: Joanne Theisen erklärt die Vielschichtigkeit von Autismus
Joanne Theisen ist selber Autistin und hat sich nun als Autismus-Beraterin selbstständig gemacht Foto: Lis Thomé

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Definitionsgemäß ist Autismus eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, wobei das Wort „Störung“ eine eher negative Konnotation impliziert. Und es sind wohl Worte wie diese, die dazu beitragen, Missverständnisse und Vorurteile gegenüber Autismus zu fördern.

Doch die Realität des Autismus ist weit komplexer und facettenreicher, als es die stereotypen Vorstellungen vermuten lassen. Es ist ein Spektrum, das eine breite Palette von individuellen Erfahrungen und Merkmalen umfasst, von sensorischen Empfindlichkeiten bis hin zu Eigenheiten in der sozialen Interaktion und der Kommunikation.

„Autismus ist unsichtbar, die Verschiedenheit ist im Gehirn“, erklärt es Joanne Theisen, die selbst im Alter von 26 Jahren ihre Autismus-Diagnose erhielt. „Ich denke, Vorurteile, Missverständnisse oder Ideen über Autismus, die ich gerne aus der Welt schaffen würde, sind Verallgemeinerungen, die nicht stimmen.“ Diese sind ebenso problematisch wie Vorurteile gegenüber anderen Gruppen, wie beispielsweise Geschlechterstereotypen. Verallgemeinert man Merkmale, ohne den Menschen selbst zu kennen, führt das zu Missverständnissen. „Traut euch, zu fragen, traut euch, kennenzulernen“, sagt Joanne. „Ich denke, ich weiß, wie es sich für mich selbst anfühlt. Wie es sich für andere anfühlt, weiß ich aber nicht unbedingt, nicht von innen.“

Das Glas und die Badewanne

Für Joanne ist ein dominanter Aspekt die hohe sensorische Empfindlichkeit. „In meiner Küche stand zum Beispiel der neu gelieferte Kühlschrank, aber nur ein paar Stunden lang. Danach habe ich es nicht mehr geschafft, ich habe den Stecker gezogen und ihn in den Abstellraum geschoben, weil das Geräusch mich irremachte. Das fällt vielen Leuten überhaupt nicht auf.“

Ein weiteres Beispiel, das sie oft anführt, ist die „Schueberfouer“. Dort gibt es so viele verschiedene Gerüche, viele verschiedene Geräusche, ganz viele Leute, Gedränge. Man wird berührt oder gestoßen. Das ist sensorisch und mental sehr anstrengend für viele Menschen. „Ich habe vielleicht ein Glas und andere haben eine Badewanne. Im sozialen oder sensorischen Sinne dauert es viel länger, bis die Badewanne der anderen gefüllt ist, als es bei meinem Glas der Fall ist“, beschreibt es Joanne bildlich.

 Foto: Joanne Theisen

Aber genau diese sensorische Sensibilität ist für Joanne auch eine der größten Quellen unerwarteter Freude. Zum Beispiel liebt sie Ruhe. „Nachts, wenn man auf einem Feld ist und es kein Vogelgezwitscher, keine Flugzeuge, keine Autos gibt. Das ist eine unglaublich schöne Ruhe. Oder wenn ich am Meer bin und die Wellen höre. Das erfüllt mich mit Freude“, erzählt sie. „Mir wurde auch schon gesagt, ich würde Pausen machen, nachdem man mit mir gesprochen hat. Dann bin ich dabei, das Gesagte irgendwie zu verarbeiten und zu sortieren, sowohl emotional als auch kognitiv zu verstehen und dann irgendwie herauszufinden, ob ich das, was der andere gemeint hat, richtig interpretiert habe, um dann auch meine Meinung dazu zu sagen“, erklärt Joanne. „Ich verlasse mich eher darauf, dass das, was ein Mensch sagt, auch das ist, was er meint. Aber ich habe mittlerweile gelernt, dass es da viele Nuancen gibt.“ Der Nachteil für Joanne dabei ist, dass sie deswegen viele Missverständnisse und auch Konflikte mit anderen Menschen gehabt hat.

Es ist diese Komplexität, die oft missverstanden wird. Vorurteile und falsche Annahmen über Autismus können zu Ausgrenzung, Gewalt, Fehldiagnosen und unzureichender Unterstützung führen. Joanne kämpft gegen diese Vorurteile an und setzt sich dafür ein, dass die Vielfalt des Autismus besser verstanden und akzeptiert wird.

In diesem Sinne hat sie sich intensiv mit Psycho- und Kommunikationstechniken auseinandergesetzt und sich mittlerweile ein subtiles und umfassendes Verständnis davon angeeignet. Sie hat gelernt, sich selbst gegenüber autismusfreundlich zu sein, indem sie Selbstpflegepraktiken einsetzt. Sie findet Entspannung in Filmen und Serien und nutzt verschiedene Erholungsstrategien wie ihre intensiven Interessen, Musik, Bewegung, Gewichtsdecken und Massage.

„Autismus ist für mich nichts, was inhärent negativ oder positiv ist. Ich denke, die negativen oder positiven Konsequenzen kommen in dem Moment, wo es eine (Nicht)-Übereinstimmung gibt zwischen dem Umfeld und sich selbst“, erklärt Joanne. Unpassende Erwartungen beiderseits können enttäuschen oder überraschen.

Unberechtigte Vorurteile

Ein verbreitetes Missverständnis ist, dass alle autistischen Menschen eine Lernschwierigkeit haben oder, im Gegenteil, hochbegabt seien. Tatsächlich existieren diese Fälle, aber es gibt auch autistische Menschen, die durchschnittlich intelligent sind. Ebenso ist die Annahme, dass autistische Menschen keine Empathie empfinden können, gefährlich, aggressiv oder gewalttätig sind, nicht korrekt.

 Foto: Joanne Theisen

Um all diesen Vorurteilen entgegenwirken und ihre eigenen Erfahrungen und Lösungen zu teilen, hat sich Joanne vor einigen Monaten dazu entschieden, sich als Autismus-Beraterin selbstständig zu machen, indem sie autistischen Menschen, deren Umfeld, Unternehmen, Vereinigungen und jedem, der Unterstützung sucht, Rat bietet. „Ich habe die Erfahrung gemacht, wie wunderbar es ist, Unterstützung zu bekommen und mit Menschen zusammen zu sein, die wirklich Verständnis haben. Somit war es für mich eine relativ logische Entwicklung, das zu tun.“ In diesem Sinne bietet sie ihre Erfahrungen und Kenntnisse in Workshops, Beratungssessions und Projektarbeit an. Sie legt dabei besonderen Wert auf die Kommunikation zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen.

Es ist ihr besonders wichtig, dass Fachleute wie Psychologen, Lehrer und Ärzte über Autismus informiert sind und die Inklusionsentwicklung vorantreiben, sowie andere autistische Menschen zu professionalisieren, insbesondere in Bezug auf Arbeitsmöglichkeiten. Daneben berät sie (autistische) Menschen zu Selbständigkeit, Wohlbefinden und Kommunikation, sowie LGBTQIA+. „Inklusion ist ein Entwicklungs- und Lernprozess, der alle einbezieht“, erklärt Joanne. „Es ist nicht nur eine Person dafür verantwortlich, sich anzustrengen. Es ist etwas, das wir gemeinsam tun.“

Autismus bringt seine Herausforderungen mit sich, ist aber nicht zwangsläufig eine Einschränkung. Vielmehr liegt der Schlüssel zu einem erfüllten Leben darin, inklusive Räume zu gestalten, die die individuellen Bedürfnisse und Stärken jedes Menschen anerkennen und unterstützen. Offenheit und Wertschätzung sind dabei von entscheidender Bedeutung.

 Foto: Joanne Theisen