EditorialEin Anschlag auf die Literatur

Editorial / Ein Anschlag auf die Literatur
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Wer sich zurzeit auch nur am Rande mit den Weltgeschehnissen beschäftigt, hat gute Gründe, zu verzweifeln – zwischen der Pandemie, Waldbränden, ausgetrockneten Flüssen, dem andauernden Krieg in der Ukraine und dem schleichenden Abgesang auf demokratische Werte dürften Pessimisten über ausreichend empirische Fallbeispiele verfügen, um ihre Misanthropie zu füttern. Medien, die den Schwerpunkt auch mal auf gute Nachrichten legen wollen, suchen diese zurzeit wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen, selten klang der aus der Feder des Berufszynikers Isaac Brock stammende Modest-Mouse-Albumtitel „Good News for People Who Love Bad News“ treffender.

Hoffnung spendet immerhin die Kultur: Seit der Aufhebung aller Einschränkungen gibt es mehr Festivals und Konzerte denn je, die diesjährige Longlist des Booker Prize ist divers, experimentell und politisch – ja, sogar Chris Martin hat versprochen, dass sich Coldplay demnächst auflösen werden (und sorgte am Donnerstag für Schlagzeilen, weil er plant, irgendwann mit einem Flugzeug, das mit Milch anstatt Kerosin fliegt, um die Welt zu touren). Umso schockierender war die Nachricht, dass Salman Rushdie am letzten Wochenende von einem fanatischen 24-Jährigen attackiert wurde. Nach mehreren Messerstichen in Hals und Bauch musste der 75-jährige Schriftsteller ins Krankenhaus eingeliefert werden, um dort künstlich beatmet zu werden.

Mutmaßlicher Grund dürfte die Fatwa sein, die der 1989 verstorbene Ayatollah Khomeini gegen den Schriftsteller nach der Veröffentlichung von dessen „Satanical Verses“ verhängt hatte. Dass der Täter zu dem Zeitpunkt, an dem die Fatwa verhängt wurde, gar nicht mal geboren war, ist dabei genauso absurd wie die Tatsache, dass Ayatollah Khomeini Rushdies blasphemisches, regimekritisches Werk nicht gelesen haben soll.

Erinnern tut mich das an ein Interview mit dem türkischen Enfant terrible Hakan Günday. Befragt, ob er nicht fürchte, dass er wegen seiner provokanten, kritischen Bücher von Erdogan eingesperrt würde, meinte Günday nur trocken, Erdogan würde doch gar keine Romane lesen. Diese Aussage ist nicht nur mutig, weil Erdogan oder Menschen, die für ihn arbeiten, vielleicht aber das Presseorgan, in dem Günday dies sagte, lesen, sie ist leider auch etwas zu optimistisch. Denn das Attentat auf Rushdie zeigt, dass Menschen durchaus von anderen Menschen wegen Bücher, die diese gar nicht erst gelesen haben, getötet werden können. Laut eigener Aussage hat der Täter Hadi Matar nur zwei Seiten der „Satanical Verses“ gelesen.

Weiterhin erinnert dieser veritable Anschlag auf die Literatur, dass verschiedene Formen von Fanatismus vielleicht zeitweilig schlummern, jedoch zu jedem Zeitpunkt wieder erwachen können – und dass überall auf der Welt Intellektuelle unter Polizeischutz und permanenter Bedrohung leben. Denn dass viele die Fatwa gegen Rushdie vergessen haben, hat nichts mit dem Schwinden von religiösem Fanatismus zu tun, sondern vielmehr damit, dass besagter Fanatismus in den letzten Jahren andere Formen angenommen hat.

Dass Salman Rushdie mittlerweile nicht länger an einem Beatmungsgerät hängt und, wie vor ein paar Tagen in den Medien verkündet wurde, nach Stunden künstlicher Beatmung seinen Sinn für Humor sofort zurückgefunden habe, mag eine medienwirksame Schönmalerei sein – trotzdem symbolisiert dies auf eine hoffnungsspendende Art den Sieg der Literatur über religiösen Fanatismus, den Triumph des Schriftstellers über sinnlosen Hass.