Berichte„Du siehst aber nicht autistisch aus“ – Betroffene erzählen von ihrer späten Diagnose

Berichte / „Du siehst aber nicht autistisch aus“ – Betroffene erzählen von ihrer späten Diagnose
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In der Forschung herrschte lange die Annahme vor, Autismus würde nur oder hauptsächlich Jungen betreffen. Dadurch werden nicht-männliche Personen spät oder teilweise gar nicht diagnostiziert. Das Tageblatt lässt vier Betroffene zu Wort kommen.

Avery* (29): „Viele Diagnosen – Fragezeichen bleiben“

Autistische Menschen entwickeln häufig ein sehr intensives Interesse an bestimmten Themen oder Objekten – sogenannte „special interests“. Die Mehrheit der Gesellschaft denkt hierbei an Fähigkeiten wie komplexe Zahlencodes knacken. Bei Avery, 29 Jahre alt und nicht-binär, heißen diese Interessen jedoch Make-up, Kostümdesign und Tattoos. Avery verfügt über ein echtes Expertenwissen in diesen Bereichen.

Mit Therapeuten hatte Avery schon in der Kindheit zu tun – Autismus war dabei lange kein Thema. Stattdessen lauteten die Diagnosen Borderline-Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung, generalisierte Angststörung … Auch eine fünfjährige Beziehung zu einem Autisten brachte das Thema nicht auf den Tisch. „Wir waren doch sehr unterschiedlich“, sagt Avery. „Er war deutlich weniger sozial als ich. Er hatte zwar ein paar Freunde, aber oft haben sich gemeinsame Bekannte bei mir beschwert, dass er ja nur über Chemie oder Warhammer, seine ‚special interests‘ redet und da keiner Lust drauf hat, zuzuhören. Außerdem hatte er regelmäßige Wutausbrüche. Ich dagegen habe bei emotionalem Stress immer geweint und war einfach nur überfordert.“

Erst als eine Freundin mit Autismus diagnostiziert wurde, kam die Wende. Avery erfuhr, dass Autismus viele Facetten hat und begann sich zu fragen, ob manche Verhaltensweisen nicht auch das Resultat von „Masking“, dem Verstecken autistischer Züge, sein könnten. „Jeder, der mich nur flüchtig kennt, denkt, ich sei sehr extrovertiert und selbstbewusst. Dabei ist das einfach nur mein ,Masking‘, das in der Öffentlichkeit immer am Anschlag läuft.“ Doch die Realität ist anders: „Schon als Kleinkind war ich ein Außenseiter. Galt als verträumt und tollpatschig. Habe nie verstanden, wie etwas gemeint war, sei es Sarkasmus oder Flirten. Ich habe schon mein Leben lang ein gestörtes Essverhalten, das hauptsächlich durch die Texturen vieler Lebensmittel kommt. Ich gelte oft als unhöflich oder mir wird gesagt, ich erzähle zu persönliche Dinge, weil ich Fragen immer ehrlich und möglichst ausführlich beantworte. Und wenn ich emotional überfordert bin, kann ich oft nicht mehr sprechen, obwohl ich sonst sehr redegewandt bin.“

Avery wurde bereits auf Autismus hin evaluiert, wartet aber noch auf das Ergebnis und hat bereits eine Vorahnung: „Ich habe mein Leben lang die verschiedensten Diagnosen um den Kopf geknallt bekommen, bis es eben beim Stichwort Autismus Klick gemacht hat.“


Else (56): „Mein Alltag ist eine Dauerbarriere“

„Du siehst gar nicht autistisch aus“, „Ich kenne Autisten, die ganz anders sind als du“, „Du redest doch ganz normal“, „Du schaust einen doch an“ – zu solchen Aussagen kann Else, die im vergangenen Jahr diagnostiziert wurde, ein Lied singen. „Ja, ich schaue die Leute an – irgendwo auf die Nase, Stirn oder Augenbrauen“, sagt sie. Und die Tatsache, dass sie laut vielen Menschen „nicht autistisch“ aussieht, ist auf ein perfekt eingeübtes Kopieren der Verhaltensmuster anderer zurückzuführen. Else erklärt: „Ich kam aus einem strengen Elternhaus. Da hieß es oft: Was sagen die Leute? Das hat mir letztendlich gutes ‚Masking‘ und eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung eingebracht.“

Wie bei vielen Müttern, bei denen eine Autismus-Spektrum-Störung erst spät festgestellt wird, kam die Frage erst nach der Diagnose der Kinder auf. Sie begann, sich näher mit dem Thema zu beschäftigen. „Dann habe ich auch eine Diagnostik angestrebt.“

Mobbing in der Schule, Schwierigkeiten beim Umgang mit Arbeitskollegen – Elses Lebensweg ähnelt dem vieler Autisten. „Ich habe mich schon immer anders gefühlt“, sagt die heute 56-Jährige. Kollegen oder andere Eltern beschrieben sie oft als eine sehr direkte Person. Häufig sei sie in negative Situationen geraten, weil sie nicht erkennen konnte, wenn jemand sie manipuliert oder ausnutzt.

Die Diagnose bezeichnet sie als Erleichterung – „weil es endlich eine Erklärung für meine Anders-Wahrnehmung gab“. Allerdings begegnet sie nach wie vor im Alltag zahlreichen Barrieren. „Ich habe bisher keinen Spezialisten gefunden, der sich damit auskennt“, sagt Else. „Dadurch dass ich schon seit zweieinhalb Jahren wegen Depression krankgeschrieben bin und Hilfe gesucht habe, die ich nicht gefunden habe, bin ich aktuell absolut nicht belastbar. Gerade bringen mich schon Kleinigkeiten aus dem Konzept, zum Beispiel wenn im Supermarkt wieder mal umgeräumt wurde oder wenn sich Menschen aus meiner Sicht komplett unsinnig verhalten.“ Vor kurzem hatte sie einen Termin bei einer Psychiaterin, die sich mit Autismus auskennt. Sie hofft, dass die Spezialistin ihr etwas mehr Unterstützung zukommen lassen wird.


Katja* (33): „Die meisten erkennen keinen Autismus“

Die späte Autismus-Diagnose bei Katja ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Psyche und mentale Gesundheit in ihrer Familie stigmatisiert wurden. Als Kind hatte sie regelmäßig Meltdowns, insbesondere bei ungewohnten Situationen mit vielen Reizen. Im Kindergarten verbrachte sie die meiste Zeit alleine auf den Toiletten oder draußen in einer Art Höhle. Freunde hatte sie keine. „Dabei habe ich ständig mit leeren Klopapierrollen gespielt und ‚normale‘ Spiele wie ‚Mutter, Vater und Kind‘ völlig abgelehnt. Ich höre noch heute, wie mein Vater mich anbrüllt und sagt: ‚Guck mich an, wenn ich mit dir rede!‘“ In ihrem Zeugnis in der ersten Klasse stand: „Bedenke, dass du andere Kinder auch mit Worten verletzen kannst.“ Das habe sie damals nicht verstanden, sagt die 33-Jährige, die mittlerweile keinen Kontakt zu ihren Eltern mehr hat.

Ihre Vorstellung von Autismus war lange Zeit von Klischees geprägt, gibt sie zu. Klischees, die verstärkt wurden, als eine Psychiaterin darauf hinwies, dass Katja nicht den ganzen Tag im Kreis drehte und nicht ausrastete, wenn die Stifte auf dem Schreibtisch nicht parallel angeordnet sind. Erst vor zweieinhalb Jahren, als sie sich wegen Depressionen in psychiatrische Behandlung begab, fragte die Ärztin, ob sie jemals auf Autismus getestet worden sei. „An dem Tag hielt ich das noch für völlig abstrus“, erzählt Katja. „Dann aber las ich mich in das Thema ein. Und irgendwann merkte ich: Ich fand mich voll darin wieder.“ Die Diagnose Autismus erhielt sie ein halbes Jahr später. Zusätzlich wurde bei ihr ADHS festgestellt.

„Ich bin wohl einer der klassischen Fälle, die erst durch das Auftreten schwerer Komorbiditäten erkannt werden“, sagt Katja, die nach wie vor das Gefühl hat, dass die meisten Menschen keinen Autismus erkennen. „Insbesondere mein Umfeld versuchte ständig, Ausreden für mein auffälliges Verhalten zu finden, und von meinem Elternhaus wurden bestimmte Verhaltensweisen zur Not mit Gewalt unterdrückt.“


Christiane* (58): „Ich war schon immer etwas anders“

Christiane ist Autistin und hochbegabt. Im englischsprachigen Raum werden diese Personen als „twice-exceptional“ bezeichnet. Wer allerdings glaubt, alle hochbegabten Autisten würden etliche Klassen überspringen und mit 16 Jahren diplomierte Astrophysiker werden, irrt. „Ich war Schulverweigererin“, sagt Christiane, bei der zuerst die Hochbegabung und nur viel später die Autismus-Spektrum-Störung festgestellt wurde. „Autismus-Diagnosen gab es bis circa 1990 nur für Kinder, die nonverbal waren oder eine intellektuelle Beeinträchtigung hatten.“

Christiane mag Pflanzen, Autos, Hunde, Reisen und Kulturenaustausch. Sie bezeichnet sich selbst als sehr sozial und empathisch und verträgt Ungerechtigkeiten und Diskriminierung nicht. „Jeden Tag rege ich mich über Dinge auf, die für andere ‚normal‘ sind und die ich als höchstgradig diskriminierend empfinde“, sagt die 58-Jährige, die schon immer etwas aus der Reihe getanzt ist. Als junges Mädchen war sie beispielsweise im Ringen. Mit der Kommunikationsart der nicht-autistischen Menschen hat die Mutter von vier erwachsenen Söhnen, von denen zwei ebenfalls spät mit Autismus diagnostiziert wurden, nach wie vor Schwierigkeiten.

Bei Christiane wurde die Autismus-Spektrum-Störung erst nach einer Fehldiagnose ihres ältesten Sohnes festgestellt. „Er war bereits im Baby- und Kleinkindalter sehr auffällig, bekam aber mit 23 Jahren eine Fehldiagnose. Erst nachdem er durch Psychopharmaka seine ‚Masking‘-Rolle verloren hatte und ich infolge meiner eigenen Diagnose für eine erneute Testung kämpfte, wurde er mit 26 als Autist erkannt.“


* Namen von der Redaktion geändert


Zusätzliche Lektüre:

Eine Expertin erklärt / „Klischeehafte Darstellungen in Medien schaden autistischen Menschen“