Eine Expertin erklärt„Einen autistischen Prototyp gibt es nicht“

Eine Expertin erklärt / „Einen autistischen Prototyp gibt es nicht“
„Autismus ist keine Modediagnose“, stellt Samantha Rizzi klar Foto: Editpress/Alain Rischard

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Lange war Autismus bei Flinta* (Frauen, Lesben, intersexuellen, nicht-binären, Trans*- und Agender-Personen) kein Thema, sondern galt als Neurodivergenz, die vor allem kleine Jungs betrifft. Warum ist das so? Und warum schaden Klischees allgemein den Betroffenen? Das Tageblatt hat aus Anlass des Welt-Autismus-Tages am 2. April mit der klinischen Psychologin Samantha Rizzi gesprochen. Sie ist auf Autismus ohne intellektuelle Beeinträchtigung spezialisiert und steht häufig Frauen gegenüber, die erst als Erwachsene diagnostiziert werden.

Tageblatt: Zuerst eine ganz allgemeine Frage. Wie würden Sie Autismus definieren?

Samantha Rizzi: Für mich ist Autismus eine andere Art, die Welt zu sehen, zu überlegen und sich mitzuteilen. Ich würde nicht unbedingt die Kriterien aufzählen, die es in der Diagnostik gibt, sondern einfach sagen, dass es gegenüber nicht-autistischen Menschen Unterschiede in Sachen zwischenmenschliche Beziehungen und Interessen an Sozialem gibt. Ganz wichtig zu erwähnen ist, dass sehr viele verschiedene Profile existieren.

Es gibt viele Vorurteile und Klischees, von der Ansicht, alle Autisten hätten ein intellektuelles Defizit, bis hin zur Ansicht, alle Autisten seien kleine Einsteins. Schaden solche Bilder nicht den Betroffenen?

Es ist wichtig, autistischen Menschen eine Bühne zu geben, sagt die Expertin
Es ist wichtig, autistischen Menschen eine Bühne zu geben, sagt die Expertin Foto: Editpress/Alain Rischard

In den Medien wird oft ein sehr stereotypes Bild von Autismus vermittelt. Dann wird zum Beispiel ein kleiner Junge erwähnt, der ständig mit dem Kopf gegen die Wand stößt, oder der „Rain Man“-Typ mit Inselbegabung. Es ist ein Irrtum, zu behaupten, Autismus ginge in jedem Fall mit einem intellektuellen Defizit oder mit einer Hoch- oder Inselbegabung einher. Ja, diese Menschen gibt es – doch sie kommen auch in der nicht-autistischen Bevölkerung vor. Es gibt keinen Prototyp. Die meisten Autisten finden sich irgendwo zwischen diesen beiden Extremen wieder. Dieses Schwarz-Weiß-Denken schadet den Betroffenen, denn es spiegelt die Realität nicht wider. Einerseits müssen sie sich gegenüber anderen, andererseits aber auch gegenüber sich selbst rechtfertigen. „Man würde nicht denken, dass du autistisch bist.“ Es wird ihnen nicht geglaubt und sie müssen sich immer wieder erklären. Dadurch dass sie von Stereotypen bombardiert werden, stellen sie sich auch die Frage: Wer bin ich denn wirklich? Was stimmt mit mir nicht? Sie finden sich selber in diesen medialen Bildern nicht wieder und fühlen sich oft nicht dazu legitimiert, sich als Autisten bezeichnen zu dürfen.

Das heißt, das Spektrum ist nicht linear?

Genau. Es gibt ein Sprichwort: „If you’ve met one person with autism, you’ve met one person with autism.“ Eine autistische Person kann völlig anders als die nächste sein.

Lange wurde Autismus als „typisch männliche“ Neurodivergenz angesehen. Personen, die keine Männer sind, wurden lange Zeit in der Forschung verdrängt. Warum ist das so?

Das liegt unter anderem daran, dass die Tests und Kriterien auf autistische Jungen ausgerichtet sind. Jungen zeigen autistische Züge häufig anders. Erstens spielen hier gesellschaftliche Erwartungen eine Rolle. Mädchen müssen sehr früh lernen, sich anzupassen. Von ihnen wird erwartet, dass sie eher zurückhaltend sind und weniger auffallen, empathisch sind, Emotionen zeigen usw. Zum Beispiel gilt man als Mädchen eher als seltsam, wenn man keine Freunde hat, während bei Jungen in unserer Gesellschaft einfach gesagt wird: Er ist halt ein Einzelgänger. Auch die sogenannten „special interests“ sind häufig weniger auffallend. Viele Autisten befassen sich sehr intensiv mit einem bestimmten Thema oder Objekt. Bei der Diagnose halten viele Spezialisten dann Ausschau nach Interessen wie Mathematik. Das können aber auch ganz andere Interessen sein. Wenn beispielsweise ein autistisches Mädchen ein riesiger Fan von Pferden ist, alles über Pferde weiß und sehr intensive Recherchen darüber macht, fällt dies möglicherweise nicht so auf, da viele Mädchen Pferde mögen.

Stimmt es, dass viele Frauen teilweise erst im hohen Alter erfahren, dass sie autistisch sind?

Ja, das stimmt. Viele Frauen können besser „masken“, also autistische Züge verbergen, und sind augenscheinlich angepasster. Häufig kommt das Thema bei ihnen erst zur Sprache, wenn sie Kinder haben, die mit Autismus diagnostiziert wurden, und beginnen, sich Fragen zu stellen, da sie ähnliche Verhaltensweisen wie ihre Kinder an den Tag legen. Werden Frauen im hohen Alter diagnostiziert, dann liegt das oft daran, dass ihr Energielevel sinkt und ihre Ressourcen nicht mehr ausreichen, um zu „masken“. Hinzu kommt dann noch die Tatsache, dass Autismus lange Zeit wenig thematisiert wurde. Späte Diagnosen sind also keine Seltenheit.

Erhalten Personen, die keine Männer sind, häufig andere Diagnosen?

Ja, das ist sogar eher die Regel als die Ausnahme. Es gibt fast immer Komorbiditäten, zum Beispiel Depressionen, Angststörungen oder Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Ich höre öfters von Frauen, die davor mit Borderline-Persönlichkeitsstörung oder bipolarer Störung diagnostiziert wurden, da Stimmungsschwankungen bei ihnen erkannt wurden. Auch das Thema Essstörungen kann eine Rolle spielen: Wenn eine autistische Person die Textur von bestimmten Lebensmitteln nicht mag oder zum Beispiel jeden Tag das Gleiche isst, kann dies so interpretiert werden, dass sie nicht essen will. In Wirklichkeit steckt aber eine Aversion gegenüber bestimmten Texturen oder eine Fokussierung auf „safe foods“ dahinter. Irgendwann bemerken diese Betroffenen, dass die Diagnosen, die sie erhalten haben, nicht so ganz passen. Womöglich haben sie Therapien gemacht, die dabei helfen sollen, doch kein Ergebnis gebracht haben. Sie fragen sich dann, ob der Ursprung ihrer Probleme nicht woanders liegt. Leider ist dies oft der Weg, den autistische Frauen gehen müssen.

Wie sieht es denn mit Trans*- und nicht-binären Personen aus? Gibt es dazu Studien?

Es gibt wenig Forschung dazu. Die Forschung steckt hier noch in den Kinderschuhen.

 

Vor einem Jahr ist das neue ICD (internationales Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen, Anm. d. Red.) erschienen. Das „Asperger-Syndrom“ tritt nicht mehr im ICD-11 auf, nachdem es bereits vor neun Jahren aus dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) in den USA gestrichen wurde. Was hat sich seitdem getan?

In klinischen Diagnosen wird der Begriff nicht mehr verwendet. Der richtige Begriff lautet jetzt Autismus-Spektrum-Störung, unter die die verschiedenen Ausprägungen fallen: nicht-verbale Autisten wie auch Autisten ohne sprachliche Beeinträchtigung, Autisten mit oder ohne intellektuelle Beeinträchtigung usw. In der Community wird der Begriff „Aspie“ aber nach wie vor oft verwendet. Viele wissen sofort, worum es geht. Als klinische Psychologin diagnostiziere ich Personen nicht mehr mit „Asperger-Syndrom“. Ich schreibe aber manchmal „ehemaliges Asperger-Syndrom“ hinzu, da sich viele Betroffene besser damit identifizieren können. Das ist der aktuelle Stand in der Diagnostik. Es kann aber auch sein, dass es in fünf Jahren wieder anders ist.

Der Begriff „Asperger“ ist auch aus einem anderen Grund umstritten …

Der Name Hans Asperger, auf den der Begriff zurückgeht, ist negativ konnotiert. Er soll mit Nazis kollaboriert haben.

(Anm. d. Red.: Neuere Forschungsergebnisse legen nahe, dass Dr. Asperger Beihilfe zum Euthanasieprogramm der Nazis geleistet und autistische Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen, die er als minderwertig gegenüber den „intelligenten Autisten“ betrachtete, in den Tod geschickt hat.)

Ich denke, jeder muss selber für sich entscheiden, ob er den Begriff nach wie vor benutzen möchte oder nicht. Viele kennen die Geschichte rund um Hans Asperger nicht.

Dann kamen Begriffe wie „hochfunktionaler Autismus“ auf. Was halten Sie von solchen Beschreibungen?

Diese Labels helfen in meinen Augen gar nicht. „Hochfunktional“ bedeutet, dass man gut in der Gesellschaft funktioniert. Doch was bedeutet dies für die betroffenen Personen? Leiden sie deswegen weniger? Sie haben nur scheinbar mehr Ressourcen, um Schwierigkeiten zu verbergen. Die Menschen sollten in meinen Augen einfach als Individuen angesehen und nicht daran beurteilt werden, wie gut sie in der Gesellschaft funktionieren.

 Foto: Editpress/Alain Rischard

Es scheint wenige Möglichkeiten zu geben, sich in Luxemburg auf Autismus hin evaluieren zu lassen …

Ja, es gibt sehr wenige Spezialisten, die Autismus diagnostizieren können. Um die Tests durchführen und auswerten zu können, müssen spezifische Formationen belegt werden. Bei der Fondation Autisme, dem Hauptansprechpartner für Autismus-Diagnosen, gibt es, soweit ich weiß, aktuell zwei Jahre Wartezeit. Mittlerweile arbeitet die Stiftung auch mit mir zusammen und manche Personen, die evaluiert werden möchten, werden zu mir weitergeleitet.

Was wäre wichtig, um ein inklusiveres Wissen über Autismus zu vermitteln?

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazugehört. Es ist wichtig, dass mehr Aufklärung zu diesem Thema stattfindet – in erster Linie durch Betroffene selber. Selber Betroffenen öfter eine Bühne geben, Forschung nicht nur an ihnen, sondern mit ihnen betrieben, Autisten auch an Guidelines mitarbeiten lassen, beispielsweise wenn neue Bürokomplexe, Parks, Supermärkte usw. gebaut werden: Das sind Punkte, die man verbessern könnte. Ferner ist es wichtig, dass Kinder von Anfang an an dieses Thema herangeführt werden, und zwar nicht mit Stereotypen. Auch Bildungs- und Gesundheitspersonal sollte entsprechend geschult werden. Mentale Gesundheit ist nach wie vor eine Art Tabu, aber ich finde, dass es anfängt, besser zu werden. Es wird mehr über beispielsweise Depressionen gesprochen. Hier, beim Thema Autismus, habe ich auch die Hoffnung, dass es besser wird.

Lektüre zum Thema

– Dr Bargiela Sarah, „Camouflage: The hidden lives of autistic women“, Jessica Kingsley Publishers 2019
– Cook Barb & Dr Garnett Michelle (editors), „Spectrum women: walking to the beat of autism“, JGP 2018
– Hendrickx Sarah, „Women and girls with autism spectrum disorder: understanding the experiences from early childhood to old age”, KGP 2015
– James Laura, „Odd girl out: my extraordinary autistic life“, Seal Press 2018
– Price Devon, PhD, „Unmasking autism: Discovering the new faces of neurodiversity“, Harmony Books 2022


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