Was war, was ist, was kommt?Die Ukraine und der Konflikt zwischen Russland und dem Westen

Was war, was ist, was kommt? / Die Ukraine und der Konflikt zwischen Russland und dem Westen
Bangen vor dem Ernstfall: Ukrainische Soldaten beim Manöver Foto: AFP/Ukrainische Streitkräfte

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Was plant Moskau und was passiert mit der Ukraine? Ein Überblick zu den im Moment wichtigsten Fragen. 

Wo sind wir dran?

Am Dienstag bestätigte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow den von Verteidigungsminister Sergei Schoigu angekündigten Teilabzug russischer Truppen aus dem Süden und Westen des Landes zurück in ihre Garnisonen. In der Ukraine wird dies als Erfolg gefeiert. „Es ist uns und unseren Verbündeten gelungen, Russland von einer weiteren Eskalation abzuhalten“, sagte Außenminister Dmytro Kuleba am Dienstag in Kiew. Zuvor hatten die Amerikaner gewarnt, der Mittwoch, 16. Februar, sei der Tag eines russischen Angriffes. Es hieß, Moskau habe jetzt genügend Truppen und Kriegsmaterial an den Grenzen zur Ukraine versammelt, um das Land überfallen und einnehmen zu können.

Wird jetzt alles gut?

So schnell dürfte das nicht gehen und der Nebel des Kriegs hängt weiter über der Region. Wie angespannt die Situation ist, zeigt eine Episode vom Montagabend. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in einer aufgezeichneten Fernsehansprache und in einem Facebook-Post auf Englisch davon gesprochen, dass es am Mittwoch zum Angriff komme. „Sie sagen uns, dass der 16. Februar der Tag der Invasion sein wird. Wir werden diesen Tag zum Tag der Einheit machen“, sagte Selenskyj in seiner Rede an die Nation und rief die Bürger auf, am Mittwoch die Nationalflagge aufzuhängen. Woher er diese Information habe, sagte Selenskyj nicht – und die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. So sehr, dass Selenskyis Umfeld die Wogen umgehend glätten musste: Der Präsident habe das ironisch gemeint, nicht Moskau habe den Angriff angekündigt, es sei vielmehr eine Replik gewesen auf die permanenten Katastrophenszenarien, die vor allem Washington und London in die Welt schicken.

Wird Moskau seine Soldaten alle zurückrufen?

Das wäre zumindest überraschend. Moskau streitet immer ab, die Ukraine angreifen zu wollen, und behauptet, seine Truppen innerhalb der eigenen Landesgrenzen so bewegen zu können, wie es gerade will. Nachdem die russischen Truppenbewegungen im November an Fahrt aufgenommen hatten und sich der Westen immer besorgter gezeigt hatte, stellte Russlands Präsident fest: „Unsere Warnungen der letzten Zeit werden wahrgenommen und zeigen Wirkung.“ Folglich müsse die von Moskau geschaffene Spannung möglichst lange aufrechterhalten werden. Nur so würden Russlands Sicherheitsinteressen, die „roten Linien“, endlich ernst genommen.

In North Carolina wartet ein US-Soldat an Valentinstag darauf, nach Europa verlegt zu werden
In North Carolina wartet ein US-Soldat an Valentinstag darauf, nach Europa verlegt zu werden   Foto: AFP/Allison Joyce

Was genau waren nochmal Moskaus „rote Linien“?

Die Klagen reichen Jahre zurück. Bereits 2007 ließ Putin die Welt mit einem aggressiven Diskurs bei der Münchner Sicherheitskonferenz aufhorchen. Putin beschwerte sich darüber, dass Moskaus Sicherheitsbedenken nicht ernst genommen würden. Russland sei nach dem Zerfall der Sowjetunion zugesagt worden, dass der Westen auf eine NATO-Ostererweiterung verzichten würde. Trotzdem rückt die NATO immer näher an die russischen Grenzen heran. Es geht um Truppenkontingente der Allianz im Baltikum und um das Raketenabwehrsystem in Rumänien und Polen. Aber auch um die Aufrüstung der Ukraine und die steigende Zahl von Manövern der NATO unter anderem im Schwarzen Meer.

Was sagen die NATO-Staaten dazu?

Die Forderungen Russlands nach einem Erweiterungsstopp der NATO und ein Zurückdrehen ihrer Aktivitäten auf das Jahr 1997 sind für die NATO völlig unakzeptabel. Das weiß auch Moskau. Genau daraus ergibt sich dieser giftige Verhandlungsrahmen ohne wirklichen Spielraum, in dem jetzt alle stecken. Bereits 2014 brach Russland in der Ukraine das Völkerrecht, die Helsinki-Prinzipien und das Budapest-Memorandum, wo es vereinfacht darum geht, dass ein souveräner Staat selber entscheiden kann, mit wem er Bündnisse eingeht und seine territoriale Integrität unversehrt bleibt. Doch ist es auch so, dass sich die europäische Sicherheitsordnung seit 1990 verschoben hat und sich besonders Moskau seitdem bedroht sieht. 1999 dehnte sich die NATO mit den bereits 1997 initiierten Beitritten Polens, Tschechiens und Ungarns erstmals bis an die Grenzen Russlands, von Belarus und der Ukraine aus. Trotz der Kriege in Kosovo und Tschetschenien konnte 1999 in Istanbul bei einem OSZE-Gipfel ein Kompromiss gefunden werden, der aber keinen langen Bestand hatte. Zusätzlich zur Erweiterung ins Baltikum 2004 rückte die NATO mit den Beitrittsländern Rumänien und Bulgarien auch an das Schwarze Meer heran – und damit an die russische Krimflotte. Diese Erweiterungen waren nicht mehr durch andere internationale Verträge eingegrenzt, die zum Beispiel ein permanentes Stationierungsverbot hätten vorschreiben können. Aus russischer Sicht war das Gleichgewicht gebrochen. Ob das alles berechtigte Sorgen Russlands sind oder nur Moskauer Phantomschmerzen nach dem Verlust der Macht aus Zeiten der Sowjetunion, ist Ansichtssache. Fest steht: Der Truppenaufmarsch jetzt ist eine Konsequenz daraus.

Wladimir Putin hat eine militärische Drohkulisse aufgebaut
Wladimir Putin hat eine militärische Drohkulisse aufgebaut Foto: AFP/Thibault Camus

Wieso stehen Russlands Truppen gerade jetzt da?

Das dürfte auch mit den „modernen Waffen“ zu tun haben, die die Ukraine aus NATO-Staaten bezieht und die Moskau ein Dorn im Auge sind. Ende Oktober setzte die Ukraine erstmals eine türkische Bayraktar-Kampfdrohne im Donbass ein, um ein Artilleriegeschütz der prorussischen Separatisten zu zerschießen. Die Militärführung der Ukraine meldete den Einsatz samt Video stolz auf Video, Moskau war erzürnt und sprach von einer Eskalation in dem Konflikt, der seit 2014 im Osten der Ukraine auf kleiner Flamme weiter schwelt, bislang laut Zahlen der Vereinten Nationen mehr als 12.500 Todesopfer gefordert hat und dessen Waffenstillstandsabkommen tausendfach gebrochen wurde. Dem Drohnenangriff folgte binnen weniger Tage die große Mobilmachung russischer Truppen in Richtung ukrainische Grenze. Es war allerdings die zweite große militärische Bewegung in dem Jahr. Bereits im Frühling hatte Moskau eine ähnliche Drohkulisse aufgebaut, diese dann zum Teil wieder aufgelöst.

Wie kam es nochmal zu dem Krieg im Donbass?

Mehrere Eskalationsstufen führten Ende 2013, Anfang 2014 zum Krieg in der Ostukraine. Ende November 2013 kam es in Kiew zu Protesten, nachdem der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch unter russischem Druck die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen mit der EU verweigert hatte. Die Proteste schaukelten sich hoch und eskalierten vollends im Februar, als Sicherheitskräfte auf die Demonstranten schossen und rund 100 Menschen töteten. Daraufhin lehnten die Demonstranten einen vom Westen vermittelten Kompromiss zur Rückkehr zur parlamentarischen Verfassung von 2004 ab – sie forderten Janukowitschs sofortigen Rücktritt, der am 22. Februar das Land fluchtartig verlassen musste. Das Parlament in Kiew wählte eine neue Regierung und einen Übergangspräsidenten. Fünf Tage später umstellten bewaffnete Männer das Regionalparlament auf der Krim. In einer irregulären Abstimmung beschlossen die Abgeordneten ein Unabhängigkeitsreferendum. Mit der Hilfe russischer Soldaten ohne Hoheitsabzeichen annektierte der Kreml schließlich die Halbinsel. Mitte April stürmten prorussische Demonstranten im Süden und Osten der Ukraine die regionalen Verwaltungen. Es war der Beginn des Krieges in der Ostukraine, den auch das zweite Minsker Abkommen aus dem Jahr 2015 nicht beenden konnte.

Ein russisches U-Boot passiert am 13. Februar den Bosporus in Istanbul
Ein russisches U-Boot passiert am 13. Februar den Bosporus in Istanbul Foto: AFP/Ozan Kose

Wieso wird keine Lösung gefunden?

Die Konfliktparteien haben in all den Jahren weder ihre schweren Waffen von der Frontlinie abgezogen, noch kommen sie in den politischen Fragen vom Fleck. Die handeln vor allem von einer Dezentralisierung der Ukraine und einer Autonomieregelung für die Ostukraine. Kiew befürchtet bei einer Autonomieregelung dauerhaften russischen Einfluss auf die politischen Entscheidungen der Ukraine. Und Russland sieht die Führung in Kiew seit dem aus seiner Sicht politischen Putsch von 2014 als unrechtmäßig an und spricht weiterhin davon, dass damals Neonazis in der Ukraine die Macht übernommen hätten.

Wie mächtig ist Russlands Armee überhaupt?

Laut dem renommierten Forschungsinstitut für Verteidigung (FOI), das dem schwedischen Verteidigungsministerium untersteht, hat Russland seine Militärausgaben signifikant erhöht und eine moderne und schlagkräftige Armee aufgebaut, die über ein weitreichendes Waffenarsenal zu Luft, zu Boden und zu Wasser verfügt. Dazu gehört auch die nuklear bestückbare Hyperschallwaffe „Awangard“. Westliche Abwehrsysteme können diese nicht aufhalten und die NATO hat nichts Vergleichbares. Der T-14 „Armata“-Panzer gilt als der modernste weltweit. Hinzu kommen eine beeindruckende U-Boot-Flotte und Luftwaffe. Wegen Einsätzen wie jenem in Syrien und einer hohen Anzahl von Militärmanövern gelten Russlands Soldaten auch als kampferprobt. Militärexperten sehen die aufgerüstete und modernisierte russische Armee unter den drei stärksten weltweit neben jenen der USA und Chinas.

US-Präsident Joe Biden zeigt sich als Anführer der NATO
US-Präsident Joe Biden zeigt sich als Anführer der NATO Foto: AFP/Weißes Haus

Könnte sich die Ukraine verteidigen?

Amerikanische Medien berichteten zuletzt, wie Putins Umfeld diesen zu überzeugen versucht, dass ein Einmarsch in die Ukraine nicht so einfach wäre, wie sich der russische Präsident dies vielleicht vorstellt. Tatsächlich hat die ukrainische Armee kaum mehr etwas gemein mit jenen 6.000 kampfbereiten Soldaten, über die das Land 2014 beim Krieg um den Donbass verfügte. Damals musste Kiew schlecht ausgerüstete Freiwilligenmilizen losschicken, was ein Grund für die hohen Opferzahlen war. Trotzdem sind die ukrainischen Streitkräfte deutlich kleiner als jene Russlands. Zu 200.000 aktiven Soldaten kommen Milizionäre und Reservisten hinzu. Russland zählt mehr als 850.000 Mitglieder in der Armee. Doch mit den im Westen und in der Türkei beschafften Waffen könnte Kiew auch dem überlegenen russischen Militär viele Probleme bereiten. Dazu gehören Panzerabwehrwaffen, die von der Schulter eines Soldaten abgefeuert werden, und auch die bereits erwähnten türkischen Kampfdrohnen vom Typ Bayraktar TB-2. Alleine die USA haben seit 2014 Rüstungsgüter im Wert von gut 2,5 Milliarden Dollar an die Ukraine geschickt.

Würde die NATO der Ukraine helfen?

Klar scheint, dass die NATO im Kriegsfall nicht aktiv einschreiten würde. Die Ukraine ist nicht Mitglied im Bündnis. Darüber hinaus ist allen Beteiligten klar, dass ein solches Szenario, wenn russische und amerikanische Soldaten aufeinander schießen würden, zu einem Weltkrieg führen könnte. Trotzdem ist das westliche Bündnis in Alarmbereitschaft und im Vergleich zu 2014 an seinen Ostgrenzen ganz anders aufgestellt. Seit 2017 gibt es NATO-Kampftruppen an der Ostflanke und unter anderem die Amerikaner haben ihre Präsenz zuletzt noch einmal verstärkt. In den baltischen Staaten, die sich besonders bedroht sehen, gibt es Einsatzkonzepte im Fall eines Angriffs oder einer Destabilisierung. Die US-Regierung hat zudem 8.500 Soldaten in Alarmbereitschaft versetzt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Kiew: Der Einsatz einer türkischen Kampfdrohne im Donbass hat die Spannungen mit Russland verschärft 
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Kiew: Der Einsatz einer türkischen Kampfdrohne im Donbass hat die Spannungen mit Russland verschärft  Foto: AFP/Sergei Supinsky

Wie geht es jetzt weiter?

Prognosen sind schwierig, aber ein ausgedehnter Krieg in Europa oder gar ein Weltkrieg scheinen zum Glück nicht realistisch zu sein. Ein Krieg in der Ukraine – in welcher Intensität auch immer – kann aber nach wie vor und trotz der zuletzt versöhnlichen Töne aus Moskau nicht ausgeschlossen werden. Der Kreml hat klargemacht, dass er seine an den Westen gerichteten, von diesem aber kaum zu erfüllenden Sicherheitsgarantien respektiert sehen will. Am kommenden Sonntag endet die Olympiade. Danach dürften sich die Warnungen vor einem baldigen Einmarsch der Russen wieder mehren. Zudem jährt sich am 22. Februar der Sturz des ehemaligen und letzten prorussischen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch. Ob Putin just an jenem Tag Revanche nehmen will? Das Nervenspiel um die Ukraine, die längst zum Spielball zwischen Russland und dem Westen geworden ist, hält an.