EssayDie Kneipe als Ort der proletarischen Identität

Essay / Die Kneipe als Ort der proletarischen Identität
Detailverliebt: Entgegen Marc Augés Definition der Bar als „Nicht-Ort“ zeigt Andy Bausch, dass der Tresen eine Art zweites Zuhause darstellen kann Foto: Patricia Peribañez

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Als Standardsituation in Filmen ist die Kneipe mit seiner Bar und dem Tresen, seinen Besuchern, ein fester Bestandteil im räumlichen Darstellungsrepertoire von Alltagsbegebenheiten. Auch in Filmen dürften Kneipen wohl gemeinhin als „Nicht-Orte“ gelten, also als jener Raum, „der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt“1).

Es sind Transiträume, man durchquert sie, bleibt nie dauerhaft. So schafft denn auch „[d]er Raum des Nicht-Ortes […] keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.“2) Ferner ist der Nicht-Ort „das Gegenteil der Utopie; er existiert, und er beherbergt keinerlei organische Gesellschaft.“3) Zudem sind Bars in Filmen wohl „kein Bild von der Fülle des Lebens. In eine Bar geht man nicht, um zu essen oder zu bleiben.“4)

Wie zu klären sein wird, stimmt Luxemburgs wohl prominentester Filmemacher, Andy Bausch, dem nur partiell zu. Immerhin trägt der Titel seines neuen Films, „Little Duke“, den Namen eines fiktiven Irish Pubs im „Pafendall“, zwischen dem Altstadt-Zentrum Luxemburgs und dem Kirchberg-Plateau.

Zweifelsohne darf Andy Bausch zu den Pioniergestalten des luxemburgischen Films gerechnet werden. Es sind zuvorderst Andy Bauschs Filme, die nahezu aufdringlich Luxemburger Weltsichten spiegeln und auf diese zugeschnitten sind.

Was aufgrund von Bauschs typischer ‚vision du monde‘, die in seinen Filmen anschaulich wird und oftmals auch seine hochgradig überzeichneten Figurentypen sowie seinen teils derben Humor einschließt, unberührt bleibt, ist die Reflexion über die Gesellschaftsschichten, das soziologische Interesse an diesen und die wirtschaftliche Entwicklung im Großherzogtum. Ja, es lässt sich sagen: Andy Bauschs Filme funktionieren als Seismograph für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche des Landes.5) Zentraler Schauplatz für die Abhandlung dieser ist die Kneipe.

Determinierte Arbeitsverweigerer

Die Kneipe im „working-class-feel-good-movie” „Le Club des Chômeurs”
Die Kneipe im „working-class-feel-good-movie” „Le Club des Chômeurs” (C) Erich François/Iris Films

„Le Club des Chômeurs“ aus dem Jahr 2001 ist Bauschs siebter Spielfilm, der den Schauplatz der Bar sehr prominent nutzt, zumal die Komödie als „working-class-feel-good-movie“6) angelegt ist und somit ihre Vorbilder unverkennbar im New British Cinema hat, jener Welle an Filmen, die Mitte der 90er-Jahre als Reaktion auf die Thatcher-Ära sozialrealistische Sujets in den Vordergrund stellten – wenn man so will, der filmhistorisch verlängerte Arm des ‚kitchen sink-realism‘ der British New Wave der Sechzigerjahre.7)

Vor allem Mark Hermans „Brassed Off“ (1995) sticht da hervor. Da gibt es bei der Eröffnung von Bauschs Film durchaus Ähnlichkeiten, ja es existiert sogar das Verhältnis der Anspielung des luxemburgischen Films auf den britischen.

Das gilt auch für Peter Cattaneos „The Full Monty“, basierend auf der Romanvorlage von Simon Beaufoy, den Bausch über den Filmhelden Jérôme (Thierry van Werveke), den alle aber nur Geronimo nennen, ganz direkt zitiert. Geronimos Impotenz übernimmt Bausch direkt aus diesem Film. Da wie hier treten Männer auf, denen aus der sozialen Misere kein richtiger Ausweg geboten wird und ebenso feiert der Film den Zusammenschluss einer Gruppe von Männern, die trotz der Schließung der Stahlindustrie für ein gemeinsames Vorhaben eintreten, eine vornehmlich parasitäre Unterwanderung des Sozialsystems.

Ein wichtiger Faktor sind die Räumlichkeiten, die der Film bedient, sowie das Dekor, die visuelle Präsentation ebendieser. Der Filmwissenschaftler Michel Cieutat meinte in seiner Überblicksdarstellung: „Bausch hat keinen eigenen Stil. Er filmt nach den Grundlagen jeder funktionalen Mise-en-scène, deren einziges Anliegen die sofortige Lesbarkeit von Charakteren, Dekors und Situationen ist.“8)

Dass Bausch stets Typen filmt, die seinem Bild von Luxemburg entsprechen, ist offenkundig. Bausch selbst äußerte sich diesbezüglich: „Mein Herz schlägt für den kleinen Mann, denn die Luxemburger haben auch andere Gesichter.“9)

Hieraus wiederum erwächst für den Regisseur ein Weltbild mit der dazugehörigen Klasse, nämlich Mittel- und Unterschicht, d.h., dass er seine Stoffe nach dem Muster aussucht: Ich stamme aus dem Minett, ich porträtiere also ebendiesen Menschenschlag.

Ein Bild der luxemburgischen Oberschicht verbietet sich folglich. Dieser Menschentypus verlangt mithin nach der Darstellung eines spezifischen Habitus, den Bausch über die Ernährungsweise und die Trinkgewohnheiten herleitet. Alkoholkonsum steht dafür musterhaft.

Ebenso verhält es sich mit den Dekors. So wird die Kneipe hier im starken Kontrast zu den Büroräumlichkeiten des Arbeitsamtes gezeigt: Schmuddelige Einrichtung, spärlicher Lichteinfall, Zigarettenqualm bestimmen das Bild des Interieurs, dessen Wichtigkeit für die Erzählung augenscheinlich ist, ist sie doch gleich sieben Mal Schauplatz des Films.

Die Helden aus Bauschs „Le Club des Chômeurs“ sind determinierte Arbeitsverweigerer: Sie haben sich entschieden, das nationale Sozialsystem auszunutzen, indem sie arbeitslos bleiben und vom Arbeitslosengeld leben; daneben verdienen sie sich etwas durch kleinkriminelle Überfälle hinzu.

An der Theke dieses heruntergekommenen Bistros treffen sich Menschen hauptsächlich aus zwei Gründen: zum einen, um die Zeit totzuschlagen, die sich da aufgrund des beruflichen Vakuums plötzlich aufgetan hat, zum anderen, um gesehen zu werden und sich in dem Anderen zu sehen, ganz nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Der Rückzug in die Kneipe bringt auf diese Weise das von sozialen Problemen zerrüttete Selbstvertrauen zurück. Bauschs Arbeitslosenclique betritt die Bar bezeichnenderweise, um zu bleiben, zu verweilen, zu leben. Bausch bringt das in einem Wortgefecht zwischen dem Arbeitslosen Théid (André Jung) und seinem Gegenpart (Germain Wagner), einem Kunden des Cafés, von dem wir nur erfahren, dass er einer Arbeit nachgeht, am Tresen ganz direkt zum Ausdruck, der Konfrontation im Saloon als Standardsituation eines Westerns nicht unähnlich. Der Kunde eröffnet die Konfrontation sehr direkt: „Mär kënnen et jo bezuele, mär Ieselen. Mär gi jo schaffe, fir iech mat duerchzehuelen.“

Es folgt der Schnitt auf den Barkeeper, der gleichsam als stiller Beobachter zu einer richterlichen Instanz wird, sich eines Urteils indes enthält. Sinnfälligerweise reicht er Théid ein Schachbrett, ein subtiler Hinweis darauf, wie schwierig eine offene Positionierung in dieser sozialkritischen Frage doch ist, und ferner, dass es sich hierbei offenkundig um ‚deren Schlachtfeld‘ handelt, die zwei Männer ihren Konflikt unter sich auszutragen haben. Théid entgegnet: „Huet ee bei dir geschellt? Wann s du schaffs wéi s de téins, da bräichte se nëmmen eng hallef Dose wéi dech, fir d’ganz Schmelz um Goen ze halen. Déi aner kënne bei eis an de Club kommen.“ Das Wortgefecht endet mit Théids Rückkehr an den Stammtisch.

Die Kneipe ist für Bausch der Ort der proletarischen Identität und auch der Ort der sozialen Kohäsion, wo eine Gruppe Menschen zusammenwächst, das Bier zum Bindemittel wird. Hier sammelt sich sozusagen der Gestalt gewordene Widerspruch einer Gesellschaft, die ihre Zukunft auf Profitorientierung und internationale Finanzdienstleistung ausgerichtet hat. So gesehen, lässt sich sagen, dass „Bauschs Filme tatsächlich als ‚Indikatoren’ zur Beschreibung des öffentlichen Bewußtseins im Großherzogtum genutzt werden können.“10)

Den Filmfiguren Bauschs fehlt es an Bindungsmöglichkeiten in einem Land, in dem sie aufgrund des Wirtschaftswachstums und der Entwicklung des Finanzplatzes auf der Strecke geblieben sind. Sie stehen als Überbleibsel der Hochkonjunktur der luxemburgischen Stahlindustrie bis in die Siebzigerjahre, sind aber auch die Verlierer des wirtschaftlichen Aufschwungs Mitte der Neunzigerjahre.

Dass diese so charakteristische Werkkonstante auch in der ausländischen Filmpresse hervorgehoben wird, zeigt, dass die nationale Verortung, genauer: deren Lokalisierung in der Kneipe, am Tresen, den Bars, für Bauschs Filme äußerst konstitutiv ist.11) (Andy Bauschs Filme wären allein deshalb unzureichend beschrieben, wollte man sie bloß als ein Kino der drehbuch- oder filmtechnischen Unzulänglichkeiten bewerten.)

Dass die konsequente Ausblendung der Schattenseiten dieses nutznießerischen Lebensstils, der beständige Alkoholkonsum, der Umstand, dass die Wiederkehr an den immergleichen Ort der Kneipe Ausdruck eines längst vollzogenen selbstbetrügerischen Suchtverhaltens ist, ist in Anbetracht des zielgerichteten Optimismus, den Bausch in seinen gutherzigen Komödien verfolgt, indes nur folgerichtig.

Um es deutlicher zu sagen: In „Brassed Off“ versucht noch ein Mann angesichts seiner sozialen Misere und der Ausweglosigkeit seiner Situation Selbstmord zu begehen – so drastisch könnte es bei Andy Bausch nicht zugehen, seine Affirmationen an das Mainstreamkino verbieten es.

Restaurant als Gegenraum

Bei Andy Bausch ist das Restaurant freilich Schauplatz gesellschaftstopografischer Differenz und Quelle zur Schaffung von Situationskomik. Die Fortsetzung von „Le Club des Chômeurs“, „La Revanche“ aus dem Jahr 2004, macht dies nur allzu deutlich: In einer Restaurantszene zu Beginn des Films führt Jérôme seine Partnerin Tessie (Sascha Ley) aus. Das Gefühl eines brodelnden Unbehagens erwächst da bezeichnenderweise über den Schauplatz des Restaurants, ein Ort, der Stille und Tischmanieren voraussetzt; in diesem sozial genormten Rahmen wirkt das aufdringliche und körperbetonte Benehmen, das man von den Vertretern des Arbeitslosenclubs aus dem Vorläuferfilm kennt, deplatziert.

Sein komödiantisches Potenzial bezieht die Szene insbesondere aus dem mimischen und gestischen Repertoire des Schauspielers Thierry van Werveke, etwa der gebieterisch erhobene Zeigefinger, es sind seine typischen mimischen und gestischen Zeichen, die soziale Grenzüberschreitungen markieren12).

Man merkt diesem Jérôme sichtlich an, dass der Flüsterton, den er wahren muss, ihm missfällt, angesichts der Verärgerung, die das Wortgefecht mit dem Kellner, der auch zu Jérômes Bekanntenkreis zu zählen scheint, in ihm auslöst. Eine unterschwellige Spannung erhält die Szene gerade aus der Erwartungshaltung des Publikums – dass die Verletzung der Benimmregeln unmittelbar bevorstehe. Merklich wohler fühlen die Helden des Arbeitslosenclubs sich da an der Imbissbude des Fußballstadions. Von der sozialen Norm losgelöst, bewegen und sprechen sie viel ausgelassener.

Bausch wählt den Schauplatz des Restaurants folglich mit Bedacht, ist dem kundigen Publikum des Vorgängerfilms doch hinlänglich bekannt, dass ein feineres Restaurant die Dauerbewohner der kleinen Kneipe so sehr ausschließt, wie es in Bauschs Vorstellung nachgerade albern erschiene, Vertreter der Hochfinanz in feinen, grauen Anzügen – die bei Bausch sehr wohl auch der Mittelschicht entstammen – in den heruntergekommenen Spelunken zu vermuten.

Standhaftigkeit: Ausblick auf „Little Duke“

Retro-Flair im „Little Duke“ 
Retro-Flair im „Little Duke“  © Patricia PERIBAÑEZ

Als ein Gruppenporträt über Männer mit ausgeprägtem Willen zur Arbeitsvermeidung steht „Le Club des Chômeurs“ von Andy Bausch in der Tradition des New British Cinema. Mit ähnlich sanftem Realismus versucht der Film die Sozialmisere vor dem Hintergrund der Schließung der Stahlindustrie im Süden Luxemburgs zu beleuchten.

Heute aber scheint die ehemalige „Schmelz“ als rahmendes Thema ausgedient zu haben. Trotz einer im Vergleich zu seinen früheren Filmen deutlich stärker angestrebten Ernsthaftigkeit, setzt sich „Litte Duke“ auf eine komödiantische und optimistische Weise mit den Ängsten in Bezug auf eine sich verändernde Arbeitswelt auseinander. Beachtlich ist nun, dass in „Little Duke“ – zweiundzwanzig Jahre nach „Le Club des Chômeurs“ –, neben seiner zentralen Verhandlung des Wandels traditioneller Geschlechterrollen und der Auflösung klassischer Familienbilder, die Kneipe selbst zum Bedeutungs- und Handlungszentrum des gesamten Filmes wird.

Über ihn gilt es, den Bauspekulanten die Stirn zu bieten, wie es da heißt. Es ist dabei Bauschs Verdienst, dass er standhaft und sich treu bleibt, die Lebensrealität einer Gesellschaftsschicht in den Mittelpunkt rückt und den Ort zeigt, der für ihre Identität konstitutiv ist: eine spärlich beleuchtete, heruntergekommene Kneipe, ein traditioneller Irish Pub, der zu einer Art sicherem Hafen für das angeschlagene Selbstwertgefühl wird und als ganz intimistischer Raum für den Erhalt des ‚traditionellen Pfaffentals‘ steht.

Nicht mehr so sehr ist es das Bier, sondern der Irish Whiskey – der obendrein den vielsagenden Markennamen Da’lyden trägt –, der hier noch als Rückbesinnung auf vergangene Zeiten fließt, während das Wirtschaftswachstum unaufhaltsam voranschreitet und die Wohnungsnot immer größer wird.

Hier wie da werden gesellschaftliche Randexistenzen aus dem öffentlichen Leben gedrängt – gierige Immobilienhaie treten auf, die nach immer mehr Bauland streben. Bauschs Filme reagieren mit äußerster Nachdrücklichkeit auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche des Landes und fokussieren nach wie vor Lebenswirklichkeiten und Probleme aus der Perspektive des Luxemburger Stammtisches.


1) Augé, Marc: Nicht-Orte. München: C.H. Beck 2019 [zuerst ersch. 1992], S. 83.

2) Ebd., S. 104.

3) Ebd., S. 111.

4) Grob, Norbert; Kiefer, Bernd: In der Bar. Elf Situationen aus elf Filmen. In: Anton Escher/Thomas Koebner (Hg.): Ist man, was man isst? Essrituale im Film. München: Edition text+ kritik 2009, S. 64-76, hier S. 64.

5) Siehe dazu: Giessen, Hans Werner: Der luxemburgische Spielfilm auf dem Weg zur Postmoderne. Medienanalytische und semiotische Betrachtungen. In: Galerie 2, 1995, S. 167-174. Oder noch: Kraus, Gérard: Luxembourg’s Film Finance Model, Andy Bausch and Cultural Identity. In: Janelle Blankenship, Tobias Nagl (Hg.): European visions: small cinemas in transition. Bielefeld: transcript 2015, S. 85-100.

6) Leach, Jim: British Film. Cambridge University Press 2004, S. 99.

7) Vgl. dazu etwa Wannaz, Michèle: Das New British Cinema. In: Thomas Christen; Robert Blanchet (Hg.): New Hollywood bis Dogma 95. Marburg: Schüren 2008, S. 141-165.

8) „Bausch n’a pas de style original. Il filme selon les bases de toute mise en scène fonctionelle dont le seul souci est la lisibilité instantanée des personnages, des décors et situations.“ Cieutat (Anm. 13), S. 125.

9) Bausch, Andy in einem Interview mit Le Républicain Lorrain 2001, S. 5.

10) Giessen (Anm. 5), S. 167.

11) Vgl. Worschlech, Rudolf: Made in Lëtzebuerg: Über „Alte Jungs“ und Kino aus Luxemburg. In: epdfilm.de. Online abrufbar unter: https://www.epd-film.de/themen/made-letzebuerg-ueber-alte-jungs-und-kino-aus-luxemburg, 2017, Zugriff: 24.4.2023

12) Vgl. dazu Trappendreher, Marc: Von Gangstern, Drogen, Familienvätern und Krücken: Die Schauspielkarriere Thierry van Wervekes im Wandel der luxemburgischen Filmgeschichte. In: Arts et Lettres: publication de la Section des arts et lettres de l’Institut Grand-Ducal Luxembourg.

Regisseur Andy Bausch mit den beiden Hauptdarstellern André Jung (l.) und Luc Feit 
Regisseur Andy Bausch mit den beiden Hauptdarstellern André Jung (l.) und Luc Feit  © Patricia PERIBAÑEZ

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