GastbeitragDie Abwertung nicht-westlichen Wissens

Gastbeitrag / Die Abwertung nicht-westlichen Wissens
 Foto: Radoslaw Czajkowski/dpa

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„Wissen“ existiert nicht bloß im Westen und auch nicht erst seit der Geschichtsaufschreibung. Doch inwiefern finden diese unterschiedliche Perspektiven Platz in unserer Gesellschaft?

Wenn über Kolonialismus und Neokolonialismus gesprochen wird, dann wird meistens auf Landraub, Gewalt in den Kolonien, auf Sklaverei und Zwangsarbeit angespielt. Dabei geht es um ökonomische Ausbeutung, politische Einflussnahme und die Schaffung von Abhängigkeiten, die bis heute andauern. Dabei geht die Form der gewaltsamen Ausbeutung über das Ökonomische und Körperliche hinaus. Eine Dimension, die selten thematisiert wird, ist die epistemische Gewalt.

Doch was ist epistemische Gewalt? Der Begriff „epistemisch“ bezieht sich auf das Wissen und die Erkenntnistheorie. Spricht man also von „epistemischer Gewalt“, bezeichnet man die Gewalt auf der Ebene des Wissens. Der Begriff geht davon aus, dass Gewalt und Wissen nicht voneinander zu trennen sind, sondern eng miteinander verwoben sind.

In der westlichen Wissensvermittlung wird oft davon ausgegangen, dass Wissen etwas Neutrales und Objektives sei. Nicht nur, aber gerade mit dem Blick auf den Kolonialismus wird allerdings deutlich, wie epistemische Gewalt konstruiert wird und wie sie wirken kann. Dabei wurde zur Kolonialzeit europäisches Wissen in die Kolonie importiert. Eine besonders verheerende Konsequenz dieser Praxis war und die systematische Verdrängung und Zerstörung der vorkolonialen Wissenskultur in den besetzen Regionen.

Vorkoloniale Geschichte, keine Randnotiz

Im Bildungswesen kommt in der Auseinandersetzung mit der Geschichte die Aufarbeitung vorkolonialer Gesellschaften und Kulturen kaum zur Sprache. Oftmals beginnen die Geschichtserzählungen und somit unser Verständnis von Geschichte im Westen, mit dem Beginn der Kolonialisierung. Dass dieser oft glorifiziert oder verharmlost schulisch behandelt wurde und wird, ist noch mal eine andere Problematik.
Zum einen liegt dies daran, dass oft viel Wissen mündlich und kulturell weitergegeben wurde. Diese Erinnerungen wurden durch die Höherstellung westlicher schriftlicher Überlieferungen entwertet. Zudem wurden die kulturellen Traditionen und Gesellschaften mit dem Kolonialismus zumindest in Teilen zerstört und durchbrochen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Überwertigkeitsgefühl westlicher Geschichtsschreibung. Diese ignorierte die Geschichte und Kultur vorkolonialer Gesellschaften oder erkannte diese ab und erhob stattdessen die europäisch-westliche Geschichte ins Zentrum.

Im Rahmen der christlichen „Mission“ wurden indigene Völker „bekehrt“. Dadurch wurden sie ihrer Religionen, ihres Glaubens und ihrer Kulturen beraubt. Das Wissen der Kolonisierten wurde dadurch entwertet oder vollends aberkannt. Diese Menschen wurden oft als „Wilde“ bezeichnet und nach dem Ermessen der westlichen Kolonialmächte als „unwissend“ behandelt. Noch heute werden in weiten Teilen der Wissenschaft und Bildung nicht-westliche Gesellschaften nur als Vorstufen gesellschaftlicher Entwicklung betrachtet. Dem wird die westliche „Moderne“ gegenübergestellt mit den vermeintlichen Werten von Rationalität, Demokratie und Fortschritt.

Hier erkennt man die bis heute andauernde fortwirkende Dimension epistemischer Gewalt. In Schule, Politik und Medien werden westliche Gesellschaften immer noch als höherwertig dargestellt und es wird von „Entwicklungshilfe“ gesprochen. Mit dieser „Entwicklungshilfe“ ist aber letztendlich nichts anderes gemeint als der westliche Entwicklungsgang.

Der Westen als Moralapostel

Genitalverstümmelung, Zwangsheirat von Minderjährigen oder religiös legitimierte hierarchische Kastensysteme sind in ehemaligen Kolonien Probleme, die nicht unbedingt auf die Kolonisierung zurückzuführen sind. Die Frage, ob der Westen wegschauen oder eingreifen soll, lässt sich nicht mit einer einfachen Antwort aufklären.

Man sollte sich als Staat oder Person des Westens bewusst sein, dass man in einer Machtsituation ist und deshalb schnell in die historisch geprägte Rolle des „Überlegenen“ fallen kann. Wegschauen und menschliches Leid ignorieren ist allerdings auch keine Option. Daher bietet es sich an in solchen Fällen, anstatt aus der Ferne über und für Betroffene zu sprechen, zu schauen, über welche Kanäle und Plattformen man für diese Menschen als Sprachrohr fungieren kann, anstatt den Diskurs zu vereinnahmen.

Letztendlich ist es wichtig, sich der westlichen Machtinteressen bewusst zu werden. Warum werden Länder wie Russland und China stärker kritisiert als Saudi-Arabien und Katar zum Beispiel? Zusammenfassend sollte man weder wegschauen noch aus der Ferne urteilen, wenn man nicht mit direkt Betroffenen gesprochen hat.

* Andy Schammo studiert Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg und schreibt seine Abschlussarbeit zum Thema „Institutionelle Diskriminierung im Luxemburger Bildungswesen“. Er setzt sich privat gegen Diskriminierung und Ungleichheiten ein.

DanV
8. März 2021 - 11.46

@ von Blücher "ob die von uns abgelehnten Kulturen, Religionen, gesellschaftlichen Ansichten der westlichen Moral nicht weit überlegen sind" ich denke nicht, dass es so einfach ist, gerade heute am Weltfrauentag. Ein großer Teil der Menschheit wird noch immer wie Besitz behandelt, mit dem man machen kann, was man will. Getötete weibliche Babys, Ehrenmorde, verbrannte Frauen, Genitalverstümmelung, Massenvergewaltigungen, ... Ist es rechthaberisch, solche Praktiken zu verdammen? Ist es zu verantworten, diese Frauen allein zu lassen? Obschon - der Westen gibt sich der Illusion hin, Einfluß nehmen zu können. Wäre das wirklich der Fall, gäbe es solche Praktiken nicht mehr. Und - wer nennt den Westen denn überheblich? Es sind doch Männer (und alte Frauen, die endlich nach langem eigenen Leiden in der Familie eine Machtposition erreicht haben) in diesen patriarchalischen Kulturen, die solche Bräuche gutheißen und sie trotz gegensätzlichem Gesetz weiter unterstützen. Und sie sind die ersten, die "Kolonialherrschaft" schreien, wenn der Westen als "Moralapostel" auftritt. Eigentlich bin ich für Nicht-Einmischung - Leben und leben lassen - aber es gibt so viel sinnloses Leid, das unterlassen werden könnte.

Realist
7. März 2021 - 20.09

Auf die Spitze getrieben kann diese Diskussion zu seltsamen Blüten führen, wie man sie derzeit im US-Staat Oregon bewundern kann. Dort soll die klassische Mathematik - mit ihrem Hang zu Präzision und unzweideutigen Resultaten als zu westlich, zu ausschliessend, zu rassistisch angesehen - in den Schulen durch eine "Ethnomathematik" ersetzt werden, die ausdrücklich "alternative Lösungen" ermuntert und anerkennt. Was wohl darauf hinauslaufen dürfte, dass die Ausgabe "zwei plus zwei" künftig als Resultat nicht nur "vier", sondern auch "gefühlte fünfeinhalb" zulässt. Sicher, kann man machen. Ich persönlich würde jedoch nie mit dem Auto über eine Brücke fahren, deren Statik mit Hilfe dieser neuen Mathematik berechnet wurde.

Von Blücher
7. März 2021 - 11.24

Einerseits wird im Artikel die westliche Kolonisation , Einflussnahme der Kulturen kritisiert, andererseits setzt man abendländisches Denken , westliche ,humanistische Denkweise ein , die seit Jahrhunderten bestehenden Sitten , Kulturen ihre Gebräuche , religiöse wie gesellschaftliche Ansichten zu reformieren. Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, Stammesdenken,die Stellung der Frau oder auch die Rechtssprechung in den islamistischen Systemen sind in diesen Teilen der Welt eine jahrhundertealte Normalität . All jene die sich heute der Modernität, des unter Anführungszeichen gesetzten Humanismus verschrieben haben und mit gehobenen Finger auf diese Länder zeigen, zur Bekehrung dieser barbarischen Sitten , Kulturen aufrufen , sind nicht besser in ihrer Denkweise als jene Kolonialherren die abendländliches Heil mit Peitsche und Stock verkündeten . Ich werfe sogar die Frage in den Raum, ob die von uns abgelehnten Kulturen, Religionen, gesellschaftlichen Ansichten der westlichen Moral nicht weit überlegen sind, oft mehr Solidarität,Gerechtigkeit,Respekt gelebt wird als in unser zur Dekadenz verkommener rechthaberischen Gesellschaft.