Danzig feiert die gewaltlose Wende vor 30 Jahren

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Die Straßen vom teuer restaurierten roten Backstein-Hauptbahnhof der Hansestadt Danzig bis zum Solidarnosc-Platz sind beflaggt. Die Gewerkschaftsfahne mit dem epochemachenden Schriftzug auf weißem Grund flattert neben dem polnischen Rot-Weiß.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Danzig

Der Weg führt an schmucken Kirchen und modernen Einkaufszentren vorbei bis ans historische sozialistische Werktor Nummer 2 der einstigen Danziger „Leninwerft“. Hier hatte Arbeiterführer Lech Walesa Ende 1980 den Sieg des von ihm angeführten Streikkomitees bekannt gegeben. Die totalitäre Staatsmacht musste erstmals in Osteuropa eine unabhängige Gewerkschaft zulassen und das Streikrecht garantieren.

Heute wirkt das Werktor etwas verloren und verschupft neben dem riesigen rostbraunen Bau des Europäischen Solidarnosc-Zentrums (ECS). Zu dessen Füßen steht seit dem Wochenende ein rot-weißer runder Tisch von 15 Metern Durchmesser. Die Installation erinnert an die späte Konsequenz jenes Streiks von 1980, nämlich den Runden Tisch und die ersten halbfreien Wahlen in der sowjetisch beherrschten Zone der sozialistischen Bruderländer. Sie fegten am 4. Juni vor 30 Jahren Polens totalitäre Regierung weg und war der Auftakt zum Berliner Mauerfall im November 1989.

Gewalt gegen Politiker

Wie lange das alles her ist, veranschaulicht nicht nur die Madison-Shoppingmall zwischen Bahnhof und Werfteingang, sondern auch die jugendliche Danziger Bürgermeisterin, mit der wir uns im ECS zu einem kurzen Gedankenaustausch verabredet haben. Alexandra Dulkiewicz ist erst seit zehn Wochen im Amt und hat dieses unter dramatischen Umständen übernommen. Ihr Vorgänger Pawel Adamowicz war bei einem öffentlichen Auftritt in einer Atmosphäre des politisch motivierten Hasses gegen liberale Grundwerte niedergestochen worden. Dulkiewicz hat deshalb zwei Leibwächter an ihrer Seite, die sie keine Minute aus den Augen lassen.

Dennoch wirkt sie im Gespräch aufgeschlossen und direkt. Fast jede Woche erhält sie wüste Beschimpfungen und schlimmste Drohungen. Darüber will sie allerdings nicht sprechen. Normal sei die Situation in Polen bestimmt nicht, kommentiert sie wortkarg. Viel lieber spricht sie über die anstehenden Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Wende in Polen. „Meine Eltern nahmen mich damals mit ins Wahllokal, ich erinnere mich noch genau an die Urnen“, erzählt Dulkiewicz und lächelt. Ihr oppositioneller Vater, die Mutter und all ihre Bekannten hätten angespannt darauf gewartet, was nun passieren würde. „Damals waren ja noch sowjetische Truppen in Polen stationiert“, erklärt Dulkiewicz.

Autoritäre Tendenzen

Heute steht sie selbst an vorderster Front im Kampf gegen die Regierung in Warschau. Für den 4. Juni hat sie nämlich neben allen ehemaligen Staatspräsidenten und Premierminister seit 1989 auch Hunderte von Bürgermeistern und NGO-Vertretern nach Danzig eingeladen. In einer Erklärung unter dem Titel „Freiheit und Solidarität“ wollen diese sich gegen die Kompetenz- und Mittelkürzung der rechts-nationalen Zentralregierung wenden.„Bürgergesellschaft und Selbstverwaltungen sind zusammen stark, und wir denken an jene Werte, die für Polen wichtig sind – unabhängige Gerichte eingeschlossen“, sagt die zierliche junge Danziger Bürgermeisterin kämpferisch.

In der Bibliothek des ECS hat sich inzwischen Lech Walesa in einen Sessel geflätzt. Auch er protestiert gegen „den Buchhelden“, wie er Polens starken Mann, den Regierungsparteichef Jaroslaw Kaczynski verächtlich nennt. „Ich würde ihn jedoch wieder anstellen; zu den von mir angeleiteten Arbeiten taugte er schon, nur zum Regieren nicht“, lästert der Friedensnobelpreisträger. Ende 1990 hatte Walesa die Kaczynski-Zwillinge zuerst in seinen Wahlstab und dann in die Präsidialkanzlei geholt, doch seit einem Vierteljahrhundert sind die einstigen Freunde bitter verkracht. Kritische Zeitzeugen der ersten Nachwendejahre merken dazu an, beide Politiker hätten autoritäre Tendenzen. Dass Lech Walesa nicht zu den bescheidenen Zeitgenossen gehört, machen seine Ausführungen zum Ende des Kommunismus deutlich. 1980 habe er die Transformation für Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn geplant, fünf Jahre später hätte das Baltikum dazu kommen sollen, erzählt er im Gespräch. „Doch mir machte 1981 das Kriegsrecht einen Strich durch die Rechnung“, erinnert sich der sichtlich gealterte, aber noch energische ehemalige Arbeiterheld.

Vergessene Richtungskämpfe

„Die Transformation erfasste 1989 dann sehr viele Länder; diesen großen Erfolg konnten wir nicht verdauen, deshalb haben es heute die Populisten so leicht“, analysiert Walesa und skizziert abenteuerliche Formeln zur Messung der Demokratie und deren Verbesserung.
Eine fast 40-minütige Tramfahrt führt in die „Siedlung der Jungen“ am Westende von Danzig. In einer engen, dicht mit Büchern vollgestopften Blockwohnung lebt dort Walesas einstiger Stellvertreter Andrzej Gwiazda mit seiner Frau Joanna, einer Untergrund-Gewerkschafterin der ersten Stunde. Auch das Ehepaar ist von Dulkiewicz zu den Feierlichkeiten für den 4. Juni eingeladen worden, doch sie boykottieren die Veranstaltung.

„Am Runden Tisch trafen sich de facto die Agenten mit ihren Führungsoffizieren“, begründet Andrzej Gwiazda. Das Ehepaar kramt Bücher von den selbstgezimmerten Gestellen, legt Dokumente vor und reichert alles mit reichhaltigen eigenen Beobachtungen an. Das stundenlange Gespräch zerrt längst vergessene Richtungskämpfe in der „Solidarnosc“-Opposition zutage. „Wir waren so isoliert damals in Polen, uns war gar nicht bewusst, dass wir nicht nur gegen den Kommunismus, sondern auch den Neoliberalismus kämpfen“, sagt Andrzej Gwiazda am Ende des Treffens. Am Runden Tisch waren die Gwiazdas im Gegensatz zu den Kaczynskis-Zwillingen nicht dabei, auch nicht als Berater.

Den vor dem ECS neu aufgebauten, symbolischen Runden Tisch hat am Montag übrigens auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki gemieden wie der Teufel das Weihwasser: Eine persönlich von Stadtpräsidentin Dulkiewicz überbrachte Einladung übersah er genauso wie ihre zum Gruß ausgestreckte Hand. Einen Kranz für die ermordeten Werftarbeiter legte er schließlich dennoch nieder – allerdings nur für jene der Arbeiterunruhen von 1970.