Aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn

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Eigentlich heißt es in Cannes sehen und gesehen werden. Es gibt jedoch Menschen, die weder sichtbar sind, noch werden Filme von ihnen gesehen. Daran soll ein interessantes Projekt etwas ändern.

Von Anne Schaaf, zz. in Cannes

Eigentlich heißt es in Cannes sehen und gesehen werden. Es gibt jedoch Menschen, die weder sichtbar sind, noch werden Filme von ihnen gesehen. Daran soll ein interessantes Projekt etwas ändern.

Reich und schön (operiert). So stellt sich eventuell der ein oder andere, der selbst noch nicht in Cannes war, die Einwohnerschaft des bekannten Städtchens an der Côte d’Azur vor. Dieser Eindruck, der nicht zuletzt auch durch die etwas verquere Selektivität vieler Medien verstärkt wird, ist nicht von der Hand zu weisen, wie eine Festivalgängerin, die seit mehr als 20 Jahren herkommt, mit einem sarkastischen Grinsen bestätigt: „Je nach Status und Alter fahren die einen ihre Luxuskarossen und die anderen ihre jungen Partnerinnen spazieren.“ Cannes hat indes auch ein anderes, ungeschminktes Gesicht.

Die Rede ist von den Lach-, aber auch den Sorgenfalten, die man vernimmt, wenn man sich jenseits der „Croisette“ oder der „Californie“ mit ihren prunkvollen Villen beispielsweise ins westlich gelegene Arbeiterviertel „La Bocca“ begibt. Seine Bewohner trifft man nicht nur während des Festivals wenig auf der Flaniermeile an, sondern auch sonst gestaltet sich die Durchmischung der grundverschiedenen Bevölkerungsgruppe eher schwierig. „Ce sont des sauvages“, statuierte eine junge „Cannoise“ bezüglich der „boccassiens“ vor genau drei Jahren in einem Interview, das die Libération mit mehreren Jugendlichen führte, um darüber zu berichten, wie es ist, 20 Jahre alt zu sein und an diesem Ort groß zu werden (oder klein zu bleiben). Im Rentnerparadies bewegen sich laut der französischen Tageszeitung lediglich 20% Menschen unter 20 Jahren, und zwischen diesen befinden sich, wie sich unter anderen hier zeigt, tiefe Gräben.

„Kultur schärft den kritischen Geist“

Diese ein Stück weit zu schließen, das hat sich Louise Ylla-Somers, der aufgeweckte Kopf hinter „La Quinzaine en actions“, vorgenommen. Hierbei handelt es sich um ein Nebenprojekt der „Quinzaine des réalisateurs“, die seit dem Ende der 60er Jahre parallel zum Filmfestival in Cannes stattfindet. Im Rahmen der Mai-Unruhen 1968 sowie im Kontext der sogenannten Langlois-Affäre (bei der der damalige französische Kulturminister Malraux die Subventionen für die Cinémathèque francaise streichen und die Entlassung ihres Leiters, der Langlois hieß, herbeiführen wollte) entstand neben einem starken Gefühl des Aufbegehrens innerhalb der Szene auch die Idee, einen Gegenpol zum politischen wie künstlerischen Establishment zu bilden und eine weitere Plattform zu bieten, auf der ein anderer Blick auf die Filmkunst möglich werden sollte.

Seit 2010 wird ein derartiger Perspektivwechsel auch unterschiedlichen, sozial benachteiligten Menschen aus Cannes ermöglicht. Durch ein sogenanntes „dispositif national d’accès à la culture et d’éducation à l’image“ soll sozialer Exklusion auf kultureller Ebene immer wieder auf ein Neues der (pazifistisch geführte) Kampf angesagt werden. Laut Louise Ylla-Somers darf die Kultur als wichtiges Element bei der Entwicklung eines jeden Menschen auf keinen Fall außen vor gelassen werden: „Sie schärft den kritischen Geist, durch sie kommen Menschen zusammen und es entsteht ein wichtiger Dialog. Allem voran ist die Kultur meiner Auffassung nach ein essenzieller Schlüssel, um Türen zu öffnen und Gräben zu schließen.“ Der Film stelle dabei ein Medium dar, dem es im Gegensatz zu Museen oder vielleicht auch Opern leichter gelänge, auch Personen, die nicht unbedingt mit kulturellem Background aufgewachsen seien, in seinen Bann zu ziehen und dabei Ängste abzubauen.

Und Action!

Dass das Projekt in Cannes seinen Ursprung fand, war kein Zufall und darf auch nicht nur als Augenzwinkern verstanden werden, so Ylla-Somers: „Es handelt sich um eine absolute Notwendigkeit. Es ist alles andere als einfach, sich Zugang zum Festival in Cannes zu verschaffen, nicht nur, aber vor allem für Menschen, die aus den benachteiligten Vierteln kommen. Sie sind zwar sehr nah am Geschehen dran und doch waren sie lange kein Teil davon. Es wurde Zeit, dass jemand ihnen klarmacht, dass auch sie willkommen sind.“ Um nicht übermütig Menschen zu ihrem Glück zu zwingen, indem man sie wahllos in den Kinosaal schleift, setze sich die „Quinzaine en actions“ vor acht Jahren mit lokalen sozialen Trägern in Verbindung, um herauszufinden, wer von den Projekten profitieren könnte und wie am besten vorzugehen sei. „Uns wurde dabei sehr schnell klar, dass es nicht reichen würde, nur die Türen zu unserem Festival zu öffnen, daher beschlossen wir, ein Begleitprogramm zu entwickeln“, schildert Louise Ylla-Somers die damalige Situation.

Benanntes Programm spielt sich nicht etwa nur während des Festivals ab, die „bénéficiaires“, wie die Projektleiterin sie respektvoll nennt, können sich das ganze Jahr über im Rahmen von Workshops ausprobieren, an Diskussionsrunden teilnehmen und viele Facetten des Films kennenlernen. Hierbei wird nicht nur auf große Namen gesetzt, sondern die Jugendlichen kommen neben Filmemachern beispielsweise ebenfalls mit Tontechnikern und Kamerafrauen in Kontakt. Die Profis bekommen zwar eine kleine Aufwandsentschädigung, jedoch findet die Begleitung auf freiwilliger Basis statt.

Ohne Angst vor Tabus

„Wir sprechen hauptsächlich Personen an, denen wir ausreichend Sensibilität zutrauen und bei denen wir im Umkehrschluss auch wissen, dass derartige Begegnungen auch sie auf menschlicher wie künstlerischer Ebene bereichern können“, erklärt Louise Ylla-Somers.
So finden vor dem Festival zwischen Oktober und April unter anderem Ateliers statt, bei denen Jugendliche gemeinsam mit einem Regisseur einen Kurzfilm produzieren und es werden Filme im Viertel gezeigt, die untereinander und mit ein wenig Glück in Anwesenheit des Regisseurs besprochen werden können.

Die französische Filmproduzentin Yasmina Faucon, die gemeinsam mit dem Filmemacher Philippe Faucon seit drei Jahren als Patin des Projektes fungiert, hebt den Austausch, der durch diese Veranstaltungen entsteht, hervor: „Erst einmal sehen die Jugendlichen dort Filme, die sie sonst im wahrsten Sinne des Wortes eventuell nicht ins Auge gefasst hätten. Außerdem äußern sie sich bei den Debatten ohne Angst vor Tabus. Sie werden nicht vorab verurteilt wegen der ein oder anderen Sicht. Die konstruktive Auseinandersetzung spielt dabei eine wichtige Rolle. Es soll Verständnis füreinander entwickelt werden und eine Reflexion stattfinden. Denn dies sind Kompetenzen, die ihnen auch außerhalb des kulturellen Kontexts im Leben helfen können.“

Ein Moment, der Louise Ylla-Somers diesbezüglich stark berührt hat, fand während des Screenings eines Films über einen afghanischen Filmemacher statt: „Unter den jungen Besuchern war auch eine Gruppe junger Afghanen, die im Anschluss an den Film begannen, mit ihren eigenen Worten den anderen Jugendlichen zu erzählen, wie es war, in Afghanistan zu leben. Sie erzählen, was genau ihr Bezug zum Kino und der Bilderwelt ist. Das hatte etwas sehr Magisches.“

Abspann

„Quinzaine en actions“ bietet außerdem Drehbuch-Schreibwerkstätten an. In diesem Kontext wird vor allem mit „Parcours de Femmes“ zusammengearbeitet, also einer Organisation, die Frauen in schwierigen Lebenslagen Hilfestellungen bietet. Nicht nur diese Frauen durchliefen einen Lernprozess, sondern mit ihnen auch die Organisatoren, gesteht Louise Ylla-Somers: „Anfangs haben wir mit ihnen Filme machen wollen. Der Selbstwert vieler Frauen hatte aufgrund ihrer Lebenslage jedoch gelitten und sie wollten auf keinen Fall gefilmt werden. Dementsprechend schlugen wir ein ’scénario atelier‘ vor, und es stellte sich heraus, dass das Schreiben wiederum eine befreiende Wirkung hatte.“

Das Filmfestival lädt zwar ebenfalls beispielsweise Schulklassen zu bestimmten Vorstellungen ein, einen wahrhaftigen Nachahmungseffekt hat die „Quinzaine en actions“ jedoch bei den Großen bisweilen scheinbar nicht ausgelöst. Es gäbe wenig bis gar keine Interaktionen zwischen beiden Festivals, erklärt Ylla-Somers. Tendenziell bewege sich eher jeder in seiner eigenen „Bubble“. So gibt es im Mai also mindestens zwei Welten in einer Stadt. Nach etwas Grübeln erzählt die Patin Faucon dann jedoch, dass die Kulturministerin Françoise Nyssen im vergangenen Jahr einmal auf den „Marches“ gestanden habe, mit eben jenen Jugendlichen, die an den Workshops teilgenommen hatten. Wenn auch pressetauglich, so war sie sogar ebenfalls bei der Eröffnung des Festivals in den Vierteln selbst, welche die „Quinzaine“ organisiert und bei der die Filme gezeigt werden, die während des Jahrs entstanden sind.

Ironischerweise läuft am Abschlusstag des Festivals, also am kommenden Samstag, Terry Gilliams „The Man Who Killed Don Quixote“. Passend dazu stellt sich trotz des Engagements seitens der „Quinzaine des réalisateurs“ die Frage, ob hier ein Kampf gegen Windmühlen geführt wird, da sich die internationalen Filmfestspiele nach wie vor eher exklusiv geben. Ylla-Somers antwortet pragmatisch: „Wir sind uns durchaus bewusst, dass wir hiermit nicht alle bestehenden Probleme regeln werden, die soziale Exklusion spielt sich ja auf nationaler Ebene ab. Das hält uns jedoch nicht davon ab, den Anfang zu machen.“ Yasmina Faucon fügt hinzu: „Wenn wir zu schnell aufgeben, ist der Sache nicht gedient. Es geht um den steten Tropfen. Wenn wir es schaffen, dass mehr Menschen begreifen, dass sie sich äußern dürfen und mehr auf sich und ihr Können vertrauen, dann ist das schon ein wichtiger Schritt.“