RusslandAuf dem Roten Platz wird dem Sieg gegen Nazi-Deutschland gedacht

Russland / Auf dem Roten Platz wird dem Sieg gegen Nazi-Deutschland gedacht
Der Kremlherrscher Wladimir Putin mag vergessen haben, dass die Sowjetunion erst mit den Nazis paktierte, bevor diese die Ukraine und Russland überfielen und auch massive Militärhilfe für die Sowjets aus den USA nötig war, um die Faschisten niederzuringen Foto: Mikhail Klimentyev/Pool/AFP

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Die Erinnerung an den Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland missbraucht Russlands Präsident Wladimir Putin für die Legitimation seines Krieges in der Ukraine. Bei der Militärparade auf dem Roten Platz macht er das so deutlich wie nie.

Auf der Tribüne hinter Wladimir Putin auf dem Roten Platz in Moskau stehen junge Männer stramm, neben ihm haben sich gebrechliche alte Männer Kapuzen ihrer Jacken über den Kopf gezogen. An „Siegestagen“ über Nazi-Deutschland zeigt sich der Präsident gern von Veteranen umgeben. Das Bild an diesem Donnerstag unterstreicht die Geschichtsklitterung, die Putin auch in seiner Rede vor knapp 9.000 Soldaten auf dem Platz vor sich und Millionen Zuschauern vor den Fernsehern betreibt.

Die Alten, das sind die wenigen übriggebliebenen Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges, des „Großen Vaterländischen“, wie er in Russland heißt. Die Jungen, das sind die, die Putin einst für seine „Verdienste“ in Butscha ehrte, der ukrainischen Stadt, die wegen der Massaker der russischen Armee zum Symbol der Gräuel Russlands gegen die Ukraine geworden ist. Für Putin ist seine „militärische Spezialoperation“ eine Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges. Wie nie zuvor zieht er diese Linie, während Schneeflocken auf den Roten Platz fallen.

Der 9. Mai ist ein identitätsstiftender Tag, in dem sich jeder findet, egal, welcher politischer Überzeugung er oder sie ist. 27 Millionen sowjetischer Bürger waren im Zweiten Weltkrieg gefallen, es gibt keine russische Familie, die niemanden zu betrauern hätte. Die Erinnerung aber und die Trauer um die Toten und Versehrten hat der russische Staat längst gekapert. Das Gedenken ist zu plakativen Losungen verkommen, zu Parolen vom „unbesiegbaren Russland“.

Die Parade auf dem Roten Platz ist ein jährliches Ritual voller neomilitaristischer Rhetorik, bei dem Putin wortreich Rache an denen zu nehmen versucht, die nicht mit seiner Sicht der Dinge einverstanden sind. „Revanchismus und Verhöhnung der Geschichte sind Teil der Politik westlicher Eliten“, sagt er an seinem Rednerpult und betreibt Geschichtsvergessenheit, indem er behauptet, die ersten drei Jahre im Zweiten Weltkrieg sei die Sowjetunion vollkommen auf sich allein gestellt gewesen. Die Anti-Hitler-Koalititon lässt er beiseite. Dafür dankt er dem „Widerstandsgeist und Mut des chinesischen Volkes“. Der Westen wolle die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg vergessen, behauptet Putin und droht: „Unsere strategischen Kräfte sind immer in Kampfbereitschaft.“

„Nur ein Panzer?“

Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, nennt er Helden, sie führten den Kampf der Vorväter weiter. „Heute verneigen wir uns in Andenken an alle, deren Leben der Große Vaterländische Krieg genommen hat“, sagt er. Derweil veröffentlichen russische unabhängige Journalisten eine Liste der Männer und Frauen in der Ukraine (damals Sowjetbürger), die die Bomben im Zweiten Weltkrieg überlebt haben, den Angriffen der russischen Armee jedoch zum Opfer gefallen sind. An solche Menschen denken weder Putin noch die vielen Männer und Frauen, die samt ihren Kindern an den Absperrungen entlang den Moskauer Straßen stehen, um ihren „Helden“ zuzujubeln.

„Wir müssen es diesen Schurken in der Ukraine zeigen“, sagt einer am Neuen Arbat, der Moskauer Prachtmeile unweit des Kremls. Knapp 60 Militärfahrzeuge fahren an ihnen vorbei. „So wenig diesmal. Ich glaube, die verarschen uns hier alle. Die Iskander-Raketen fahren doch sicher schon die zweite Runde, um uns den Eindruck zu vermitteln, sie hätten mehr zu bieten“, sagt ein junger Mann in einer Tarnfarben-Jacke zu seinem Freund neben einem zentralasiatischen Restaurant. Sie haben sich in Russland-Fahnen gewickelt, winken den Soldaten in den gepanzerten grünen Fahrzeugen zu. „Nur ein Panzer?“, fragt ein Fünfjähriger, der auf den Schultern seines Vaters hockt. „Sei nicht enttäuscht, ruf einfach ,Hurra‘“, rät dieser dem Kleinen und nimmt ihn wieder herunter. Durch den Schnee gehen sie zur Metro. Die orangefarbenen Räumfahrzeuge putzen den Asphalt.