100 Jahre allgemeines Wahlrecht: Der Kampf der Geschlechter um die Ministerposten

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Seit 1919 können Frauen in Luxemburg nicht nur wählen, sondern auch gewählt werden. Die Bildung des neuen Kabinetts, das gestern vereidigt wurde, gibt Anlass, Bilanz zu ziehen – bei der Frage nach der Gleichberechtigung. Welche Rolle haben Frauen in den Regierungen seit 1919 gespielt?

In absoluten Zahlen sieht es düster aus. Seit 1920 gab es insgesamt 107 Männer, die die Geschicke Luxemburgs in der Regierung lenkten – und nur 19 Frauen, die einen Ministerposten innehatten. Zwar schaffte es schon bei den Wahlen 1919 mit Marguerite Thomas-Clement die erste Frau ins Parlament, doch auf eine Beteiligung an einer Regierung mussten die Frauen noch bis 1967 warten. Erst dann gelang Madeleine Frieden-Kinnen (CSV) der Sprung in die Regierung. Als Staatssekretärin für Familie, Jugend, Bevölkerung, Soziale Solidarität und Bildung eroberte sie Neuland.

Und erst 1969 – genau 50 Jahre nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts – wird Frieden-Kinnen Ministerin für Familie, Jugend, Soziale Solidarität und Gesundheit.
„Es musste ein Sinneswandel in der Gesellschaft erfolgen“, sagt Colette Flesch. Die energische DP-Politikerin ist heute 81 Jahre alt. Gespräche beginnt sie mit festem Händedruck und durchdringendem Blick. 1980 wurde sie als zweite Frau überhaupt in eine luxemburgische Regierung berufen. „Es ist schon erstaunlich, dass Frauen 1919 bei uns das Wahlrecht bekommen haben. Damit waren wir unter den Ersten.“

Schwierige Rahmenbedingungen

Aber dann muss Flesch den Kopf schütteln. „Erst Ende der 60er-Jahre hat sich wieder etwas getan und es gab die erste Ministerin. Man stelle sich die Rahmenbedingungen vor: Wir mussten bis in die 70er-Jahre warten, bis eine verheiratete Frau nicht mehr als unmündig gegenüber ihrem Mann galt!“ Colette Flesch erbte 1980 Gaston Thorns Regierungsämter, als dieser Chef der EU-Kommission wurde. Sie war Luxemburgs erste Vizepremierministerin, erste Wirtschaftsministerin, erste Justizministerin und erste Außenministerin. Trotzdem sieht sie sich nicht als Pionierin.

„Ich bin heute noch erstaunt, wenn mich junge Frauen als Pionierin bezeichnen. Ich habe das damals nicht so empfunden“, sagt sie. „Madeleine Frieden-Kinnen und ich waren vielleicht noch eine Ausnahme – aber danach hat sich das geändert.“ War es denn nicht seltsam, als einzige Frau in den Gremien zu sitzen? „Das hat mich Jean-Pierre Büchler [früherer Luxemburger Bauminister] auch einmal gefragt“, antwortet Flesch. „Als ich ihn fragte warum, meinte er: ‚Weil hier nur Männer sind.‘ Ich habe ihm damals geantwortet: ‚Ah ja, stimmt.‘ Das war mir gar nicht aufgefallen.“

Neuland erobern – keine leichte Aufgabe

Wenn sich Colette Flesch an ihre Anfänge in der großen Politik erinnert, kann sie ein Grinsen nicht unterdrücken. „Es war für die Beamten ein kleiner Schock, wenn eine Frau in politische Positionen aufstieg – besonders im Wirtschaftsministerium, in dem man zu diesem Zeitpunkt mit der Stahlkrise zu kämpfen hatte“, sagt sie. „Aber für mich war das von 1969 an eigentlich nichts Ungewöhnliches mehr.“ Damals wurde Flesch nach einem hervorragenden Ergebnis bei den Kommunalwahlen Bürgermeisterin von Luxemburg-Stadt. „Ich war damals die Jüngste – und die einzige Frau. Ein wahres unidentified flying object.“

Trotzdem war der Wirtschaftswissenschaftlerin zu jener Zeit bewusst, dass Frauen von der Öffentlichkeit intensiver beobachtet wurden. „Man durfte keine Schwäche zeigen – und am besten auch keine Fehler begehen“, sagt sie. Deswegen habe sie sich immer an einen Ratschlag gehalten, den ihr Gaston Thorn mit auf den Weg gegeben hatte: „Wenn du in eine Sitzung gehst, musst du besser vorbereitet sein als irgendjemand sonst. Kurzum, du musst arbeiten. Sehr viel arbeiten. Alles durchsehen.“

Ministerium je nach Geschlecht?

Bis heute bedienten Frauen in der Regierung meist „Frauen-Themen“. Die Ressorts Familie und Kultur waren siebenmal von Frauen besetzt, Tourismus fünfmal, die Bildungs- und Gleichberechtigungsministerien wurden viermal von Frauen geführt. Dass Ministerien nach Geschlecht verteilt werden, streiten jedoch sowohl Colette Flesch als auch die derzeitige Umweltministerin Carole Dieschbourg (41) ab.

Die Spitzenkandidatin von „déi gréng“ war in der letzten Regierung als erste Frau überhaupt Umweltministerin geworden – und behält ihren Posten auch in der neuen Regierung. Beide Politikerinnen sind sich einig: In Luxemburg zählt die Kompetenz. „In jedem Fall muss man sich in die Materie einarbeiten. Du musst Verantwortung übernehmen. Das ist für Frauen nicht anders als für Männer“, sagt Carole Dieschbourg. Von Außenpolitik bis Weinbau – Frauen hatten in Luxemburg schon fast jedes Amt inne. Nur wenige Ressorts konnten sie noch nicht erobern. Die wichtigsten unter ihnen: Finanzen, Verteidigung, Innere Sicherheit – und natürlich das Staatsministerium.

„Das wird am längsten dauern“, meint Colette Flesch. „Dann müsste eine Frau wirklich als Spitzenkandidatin die Wahlen sehr überzeugend gewinnen.“ Auch Carole Dieschbourg ist überzeugt: „Das müssen die Wähler entscheiden – und die Parteien.“ Aber sie ist zuversichtlich, dass zumindest eine wirklich paritätische Regierung in naher Zukunft möglich ist: „Das kann ganz schnell gehen, es braucht nur genügend Mut. Aber ein genaues Datum kann ich da nicht nennen.“

 

Ein langer, weiter Weg

Frauen besetzten in den vergangenen 100 Jahren nie mehr als ein Drittel der Ministerposten in den jeweiligen Luxemburger Regierungen. Der Spitzenwert: 33 Prozent in den Jahren 1998 und 1999. Damals war das Verhältnis 8 Männer und 4 Frauen. Die neue Regierung Bettel-Schneider-Braz liegt mit 29,4 Prozent Frauenanteil auf dem zweiten Platz. Immerhin: Seit 1995 stellen Frauen stets mehr als 20 Prozent der Minister. „Wir sehen, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben“, sagt Carole Dieschbourg. „Wir können nicht sagen, es ist schon alles gut, wenn es immer noch zu wenige Frauen in Verantwortungspositionen gibt – sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik.“

Für die Ettelbrückerin ist Gleichberechtigung eine Herzensangelegenheit: Quoten seien dafür sicher ein wichtiges und richtiges Mittel. Aber es müssten weitere Schritte unternommen werden. „Wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen, weder in Luxemburg noch international.“ Oder, frei nach Colette Flesch, in der Politik braucht es mehr Ufos!


Als das Tageblatt am Stuhl der ersten Ministerin sägte

Madeleine Frieden-Kinnen eroberte 1967 als Luxemburgs erstes weibliches Regierungsmitglied absolutes Neuland für Frauen. Sie wurde Staatssekretärin für Familie, Jugend, Bevölkerung, Soziale Solidarität und Bildung. Nur zwei Jahre später gelang es ihr, eine weitere Tür aufzustoßen, als Ministerin für Familie, Jugend, Soziale Solidarität und Gesundheit. Sie übernahm außerdem das Ressort Kultur und Kultus. Die Frauen waren endlich in den Führungskreisen der Politik angekommen – 50 Jahre nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Doch die Karriere der ersten Ministerin endete in einem menschlichen Drama, an dem das Tageblatt Schuld trägt.

Mit dem Artikel „Die ‚Buergfried‘-Affäre“ vom 19. August 1969 begann eine politische Schlammschlacht. Zwar ging es in dem für heutige Maßstäbe sensationslüsternen und unsignierten Text hauptsächlich um die Anschuldigungen gegen einen Priester, der mit einem 19 Jahre alten „Minderjährigen“ (Volljährigkeit erreichte man damals mit 21) unter seiner Betreuung angebandelt hatte. Doch immer wieder wurde die enge Beziehung der Ministerin Frieden-Kinnen mit dem Priester betont – und ihr vorgeworfen, während der Ferien mit den beiden Männern sonnenbaden gewesen zu sein – im weißen Bikini. Getroffen von den Anschuldigungen des Artikels beschloss Madeleine Frieden-Kinnen, das Tageblatt zu verklagen. Was folgte, waren drei Prozesse, in denen die Ministerin immer wieder ihre Unschuld betonte.

„Wäre ich als liberale Abgeordnete im Bikini auf dem ’Buergfried‘ gesehen worden, hätte kein Hahn danach gekräht“, erzählt Colette Flesch, die zur gleichen Zeit wie Madeleine Frieden-Kinnen in der Nationalpolitik tätig war. „Aber sie war Ministerin, die erste weibliche Ministerin überhaupt, und sie war Mitglied der konservativen und katholischen Partei CSV.“

Bei einem Treffen habe Frieden-Kinnen ihr anvertraut, wie viel die Geschichte sie belasten würde – und dass sie sich keiner Schuld bewusst sei. Vor dem dritten und letzten Prozess entschied sich Madeleine Frieden-Kinnen auf Druck von Premierminister Pierre Werner, ihr Amt abzulegen.

„Die Artikel der ‚Buergfried‘-Affäre wurden zum Selbstläufer“, sagt Robert Goebbels, der damals beim Tageblatt als Journalist arbeitete. „Sie haben viel Polemik ausgelöst. Doch es gab nie ein Komplott gegen die erste weibliche Ministerin.“ Ein endgültiges Urteil im Streit um die An- oder Abwesenheit von Madeleine Frieden-Kinnen auf dem „Buergfried“ wurde nie gefällt. Stattdessen wurde der Prozess nach einigen Jahren eingestellt. Die Pionierin zog sich nach ihrem Rücktritt völlig aus der Politik zurück, verletzt durch den ausbleibenden Rückhalt ihrer Partei und die in ihren Augen ungerechte Behandlung durch die Presse. Ihr Hauptgegner, Tageblatt-Direktor Jacques Poos, begann drei Jahre danach selbst eine politische Karriere, erst als Finanzminister, später als Vize-Premierminister.

1999, nach ihrem Tod, wurde in der Chamber ein Brief von Madeleine Frieden-Kinnen vorgelesen, in dem sie ihre Unschuld erklärt und sich als Opfer eines Gerichtsirrtums beschreibt. Doch sie verzeihe jenen, die sie angegriffen haben, schreibt sie. Das einzige Regierungsmitglied, das an diesem Tag anwesend war: Jacques Poos.

Herr
7. Dezember 2018 - 18.34

Die Schweiz, die ja von einigen Leuten hier immer als Ausgeburt von Demokratie verschrien ist, hat dafür ein paar Jährchen länger gebraucht, bis in die 70er und teilweise bis in die 90er. Also ersparen sie uns das bitte in Zukunft.

L.Marx
6. Dezember 2018 - 23.13

Marguerite Thomas-Clement war übrigens eine Sozialdemokratin. Dafür muss sich niemand schämen wenn er schon Madeleine Frieden-Kinnen mit ihrer politischen Blutgruppe erwähnt. Eher schon für die Story, die 1972 zu deren Demission führte.

Den Avenir leit an der Zukunft
6. Dezember 2018 - 11.37

Dieser Kampf ist ja jetzt fast gewonnen, jetzt beginnt der Kampf der nie auf einer Wahlliste gewesenen für Ministerposten!