Lust zu lesenDie andern sind schuld

Lust zu lesen / Die andern sind schuld
Fernanda Melchor Foto: Maj Lindström

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Bereits ihr Roman „Saison der Wirbelstürme“ sorgte für Furore, war für den Man Booker Prize nominiert, erhielt den Anna-Seghers-Preis und den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt. Nun ist ein zweiter Roman der Mexikanerin auf Deutsch erschienen und Guy Helminger hat ein bedrückendes, grausames und großartiges Buch gelesen.

Am Rande der Reichen-Wohnsiedlung „Paradais“ treffen sich der 16-jährige Polo, der als Gärtner und Poolreiniger jobbt, und „der Dicke“ namens Franco, ein 15-Jähriger, der in einer der Villen wohnt, regelmäßig am verschmutzten Fluss und betrinken sich besinnungslos. Sie sind keine Freunde. Polo hasst den Dicken sogar und bleibt abends nur bei ihm, weil er den Schnaps bezahlt und Polo sowieso nicht nach Hause möchte, wo seine Mutter nur mit ihm schimpft und die schwangere Cousine in seinem Bett schläft, während er die Nacht über auf einer stinkenden Bastmatte liegen muss. Der übergewichtige Franco fantasiert ununterbrochen von Señora Marián, einer Mutter zweier Kinder, die seine Nachbarin ist. Er steigert sich in Szenen hinein, die er aus Pornos kennt und ist bald davon überzeugt, dass die Dame nur auf ihn wartet. Der Anfang des Romans wirkt in seiner Redundanz, was die pubertären Gedanken Francos anbelangt, erst unappetitlich, fast langweilig, aber schnell wird klar, dass es hier um ein allgemeines Frauenbild geht, eine grundlegende Verachtung dem weiblichen Geschlecht gegenüber, die in Mexiko gang und gäbe ist. Und die Leserin, den Leser beschleicht nach und nach ein sehr ungutes Gefühl.

Währenddessen spuckt Polo seinen ganzen Hass auf die Straße und macht die ganze Welt für sein Elend verantwortlich, den Großvater, der dement wurde, bevor er ihm zeigen konnte, wie man ein Boot baut, die Mutter, die ihn zwingt diese Drecksarbeit im angeblichen Paradies zu machen, dabei kann er den Namen der Siedlung nicht mal richtig aussprechen, seine Cousine, die ihm das Bett weggenommen hat, den Chef, der ihn malochen lässt, und seinen Cousin Milton, der von einer kriminellen Organisation entführt und gefoltert wurde und nun für diese töten muss und deshalb Polo warnt, auf die schiefe Bahn zu geraten. Dabei will Polo nur etwas Geld und einfach weg. Aber die Lage ist aussichtslos. Als Franco beschließt, dass er Señora Marián nun endgültig haben muss, willigt Polo ein, mit in die Villa einzubrechen.

Fernanda Melchor erzählt die Geschichte aus Polos Perspektive, voller Gewaltausdrücke, Verzweiflung und Wut. Dabei legt sie eine verrohte Gesellschaftsstruktur frei, der schon die Teenager zum Opfer fallen und die gar nicht dazu kommen, ein soziales Gewissen zu entwickeln. Frauenverachtung, Kriminalität, Perspektivlosigkeit lassen Vergewaltigung und Mord plötzlich als legitimen Weg für die Protagonisten erscheinen.

„Paradais“ ist ein erschütternder Roman, der sich in einer Art zuspitzt, dass man das Atmen vergisst. Zugleich zeigt das Buch ein Leben, das in Mexiko Alltag ist.

Fernanda Melchor

„Paradais“
Verlag Klaus Wagenbach 2021
144 S., 18 €