GastbeitragDeshalb brauchen wir eine globale Verfassungsrevision (2. Teil)

Gastbeitrag / Deshalb brauchen wir eine globale Verfassungsrevision (2. Teil)
Alex Bodry Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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Der zurzeit gültige Verfassungstext fällt im Vergleich zu Verfassungstexten neueren Datums deutlich ab. Man erinnere sich an eine Studie der UNO aus den 1970er Jahren, welche bei einer wortwörtlichen Auslegung des Textes, zur Schlussfolgerung gelangte, dass Luxemburg nicht als vollwertige Demokratie zu bewerten sei.

Klar, seither gab es eine ständig wachsende Zahl von punktuellen Revisionen, die zum Zweck hatten, flagrante Mängel am Text zu beseitigen. Sogar während der laufenden Arbeiten an einer neuen Verfassung, die intensiv seit 2005 geführt werden, kam es zu kleineren Revisionen. Insgesamt kam es in dieser Zeitspanne zu 13 Abänderungsgesetzen an der Verfassung, ein letztes Mal am 15. Mai 2020 in der Frage der rechtlichen Auswirkung der Urteile des Verfassungsgerichtshofes.

In wacher Erinnerung bleibt die in höchster Eile 2009 durchgeführte Revision des Artikels 34 der Verfassung über die Befugnisse des Großherzogs vor der Promulgation der Gesetze. Der Staatschef weigerte sich damals, das vom Parlament verabschiedete Euthanasiegesetz zu „sanktionieren“. Nur so konnte eine schwere institutionelle Krise in extremis verhindert werden. Ausgangspunkt der Polemik war damals eine völlig überzogene Interpretation eines alten Textes, im Sinne des 19. Jahrhunderts.

Neuer Text: Evolution statt Revolution

Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, die bestehende Verfassung vom Mief der Vergangenheit zu befreien, Unklarheiten und Widersprüche zu beseitigen und aufgrund der bestehenden Praxis zu vervollständigen. Nicht eine Revolution ist geplant, sondern eine Wahrung des Bewährten und eine vorsichtige Entwicklung des Bestehenden, sowohl was die Institutionen wie auch die Grundrechte betrifft. Die geplante Revision geht in ihrer Tragweite, bis auf zwei bis drei Ausnahmen, nicht weiter als die in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Revisionen. Sie unterscheidet sich nicht inhaltlich von der bisherigen Revisionspraxis, sondern einzig und allein durch die große Anzahl von Änderungen in einem sehr kurzen Zeitraum. Trotzdem wird dxie Mehrzahl der Verfassungsartikel unverändert bleiben. Auch die Frage der zwingenden Notwendigkeit eines Referendums sollte man unter diesem Gesichtspunkt bewerten.

Je unklarer und unvollständiger die Verfassung ist, desto unsicherer und risikoreicher wird die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze. Dort, wo die Verfassung unzureichend ist, wird der Verfassungsrichter versucht sein, dieses juristische Vakuum aufzufüllen und bestehende Verfassungsregeln extensiv auszudeuten oder durch zusätzliche Begriffe zu bereichern. So geschehen in einigen rezenten Urteilen des Verfassungsgerichts, welche den nicht ausdrücklich in der Verfassung verankerten Begriff der Rechtsstaatlichkeit („Etat de droit“) als Ausgangspunkt für die Anerkennung und Anwendung von sogenannten Prinzipien mit Verfassungsrang definiert haben. Aus Gründen von demokratischer Kontrolle, politischer Transparenz und von Gewaltentrennung führt kein Weg an einer globalen Revision der Verfassung vorbei.

Wie schrieb der Unterzeichnete (damals Jura-Student) in einem Tageblatt-Artikel im Jahr 1978 (!):  „Es wäre falsch, eine Revision der Revision willen durchführen zu wollen; der konstitutionellen Flickarbeit muss seine Ende gesetzt werden. Eine umfassende ‚Renovierung’ ist von Nöten, damit der Unterschied zwischen Verfassungstext und Wirklichkeit auf ein Minimum reduziert werden kann.“

Ein Hauptziel: die Schwächen ausbügeln

Die hauptsächlichen Schwachpunkte der heutigen Verfassung liegen in folgenden Bereichen:

1) Der Katalog der Rechte und Freiheiten ist recht dürftig und weniger weitreichend und ambitiös als die wichtigsten internationalen Konventionen in diesem Bereich.

2) Das Kapitel des Großherzogs ist generell revisionsbedürftig, da die Bestimmungen als Überbleibsel von Staatskonzepten des 19. Jahrhunderts anzusehen und mit Verfassungsfiktionen bespickt sind.

3) Die Kapitel der Abgeordnetenkammer und der Regierung entsprechen nicht der institutionellen Realität. Eine Nachbesserung tut not.

4) Die Unabhängigkeit der Justiz, von Richtern und Staatsanwaltschaft ist nur ungenügent verankert.

Die Revision versucht diese Mängel zu beheben.

Die Liste der Grundrechte und Freiheiten wird ausgebaut. Ebenso die Kategorie der sogenannten Staatsziele. Bei Letzteren handelt es sich um die Gewährleistung von Grundrechten, die jedoch nicht zu einem einzeln vor Gericht einklagbaren Recht führen. Eine grobe Unterlassung des Staates bei der Umsetzung eines Staatszieles wie zum Beispiel dem Klimaschutz, dem Kinderschutz, dem Tierschutz oder dem Recht auf Wohnen könnte jedoch gegebenenfalls zu gerichtlichen Anweisungen und zu einem Anrecht auf Entschädigungen führen. In verschiedenen Ländern ist die Rechtssprechung in dieser Hinsicht in Bewegung. Die Zahl der uneingeschränkten Bürgerrechte ist wie in allen Ländern klein. Die bürgerlichen Freiheiten können per Gesetz und nicht durch Regierungsbeschluss eingeschränkt werden. Neu ist, dass in allen Fällen bei gesetzlichen Einschränkungen die Essenz der Freiheit erhalten bleiben muss. Beschränkungen müssen angemessen, d.h. verhältnismäßig sein, notwendig in einer demokratischen Gesellschaft und einer Zielsetzung von allgemeinem Interesse entsprechen oder dem Bedürfnis nach Schutz von Rechten und Freiheiten anderer dienen. Dies bedeutet gegenüber dem heutigen Text eine merkliche Stärkung der Freiheiten der Bürger.

Die symbolische, überparteiliche und rein repräsentative Rolle des Großherzogs als Staatschef wird gestärkt. Er ist nicht mehr Teil der drei Staatsgewalten, sondern ein Teil der Exekutive, die er zusammen mit der Regierung ausübt. Dies ist konform zum Prinzip der Gewaltentrennung. Die Bestimmung des Staatschefs geschieht in Zukunft nicht mehr über den Familienpakt der Nassauer, sondern durch Bestimmungen der Verfassung selbst. Zwar bleibt der Großherzog während seiner Amtszeit „unverletzlich“, d.h. er kann zivil- wie strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden, er kann jedoch in Zukunft, falls er seine Verfassungsaufgaben nicht erfüllt, vom Parlament auf Anfrage der Regierung mit qualifizierter Mehrheit seines Amtes enthoben werden. Die Auflösung des Parlaments kann nicht willkürlich, sondern nur in bestimmten Hypothesen geschehen. Verschiedene rein formale Prärogativen des Großherzogs werden im Verfassungstext nicht mehr verankert oder aber neu formuliert. Dies ist konform zur institutionellen Praxis der letzten 100 Jahre.

Ein Kompromisstext

Die Mission der Regierung wird neuerdings in der Verfassung definiert, die Rolle des Premierministers erwähnt. In Zukunft geschieht eine Anklage eines Regierungsmitglieds nicht mehr über das Parlament, sondern durch die Staatsanwaltschaft. Die Minister verlieren das sogenannte Gerichtsprivileg, ihre Immunität wird dem Statut der Abgeordneten angepasst.

Die Kontrollfunktion der Abgeordnetenkammer wird gestärkt. Dem Parlament werden zusätzliche Rechte zugestanden, ein Untersuchungsausschuss muss in Zukunft bereits auf Anfrage von einem Drittel der Abgeordneten eingesetzt werden. Vertrauensfrage und Misstrauensantrag werden endlich verbindlich geregelt. Das Verfassungsgericht ist in Zukunft für die Kontrolle der Gültigkeit der Parlamentswahlen zuständig.

Sprache, Flagge und Nationalhymne finden ihren Einzug in unsere Verfassung. Das Prinzip der Trennung von Kirchen und Staat wird festgeschrieben. Die Verpflichtung des Staates, die Gehälter und Pensionen der Kirchendiener zu übernehmen, wird gestrichen. Vertragliche Vereinbarungen mit den Glaubensgemeinschaften bleiben möglich.

Neu ist schließlich die Einführung einer Volksgesetzesinitiative. Ein solcher, von 12.500 Wählern unterstützter Gesetzesvorschlag muss in öffentlicher Sitzung im Parlament zur Debatte und zur Abstimmung gelangen.

Diese Liste der Änderungen ist nicht vollständig. Sie gibt jedoch einen guten Gesamtüberblick über die Grundausrichtung der Verfassungsreform. Es ist und bleibt ein Kompromisstext, der sich auf dem größten gemeinsamen Nenner der vier größten Parteien bewegt. Es ist ein ausgewogener und ehrlicher Vorschlag, der sich bemüht, ein solides Rechtsfundament für diesen Staat und diese Gesellschaft darzustellen. Die jetzt anlaufenden Diskussionen werden es ermöglichen, ihn objektiv einzuschätzen: ein deutlicher Schritt nach vorn im Vergleich zum heutigen Verfassungstext!

LINK: Hier geht es zum ersten Teil dieses Beitrages.

Arthur Feyder
2. Dezember 2021 - 10.34

Der Autor schreibt es unumwunden: Der Bürger kann seine Grundrechte nicht einklagen. Pour mémoire: Da bedarf es zuerst einer Gerichtsangelegenheit wo die Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung hervorgehoben wird. Dann obliegt es dem Gericht, über die Zulässigkeit des besagten Antrages zu befinden. Dieses Prozedere ist ergo mit Hindernissen behaftet und in fine willkürlich. Dem Bürger, dem Souverän, dem Dritten Stand, wird schlicht und einfach das Recht auf Verfassungsklage vewehrt. Stellt das Verfassungsgericht eine Verfassungswidrigkeit fest, dann ändert die Legislative den Verfassungsartikel und nicht das Gesetz( cf. ursprünglicher Verfassungsartikel 16, wo das Adjektiv "préalable" entfernt wurde, um eben nicht das Enteignungsgesetz anzupassen.Und da war noch Artikel 380 , 1er alinéa, Zeilen 2 und 3 des Code Civil. Much ado about nothing. Und nun schweigt des Sängers Höflichkeit.