Flashback 2020Leopold II., sein brutaler Kolonialismus im Kongofreistaat und die Luxemburger

Flashback 2020 / Leopold II., sein brutaler Kolonialismus im Kongofreistaat und die Luxemburger

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Anfang 2020 war noch alles anders. Wie sehr hat das vergangenen Jahr die Welt und Luxemburg verändert? Bis Silvester präsentiert das Tageblatt die interessantesten und bewegendsten Artikel des Jahres der Corona-Pandemie. Dieser Artikel wurde zuerst am 11. Juni veröffentlicht.

Mit der von den USA ausgehenden Protestwelle gegen Rassismus geraten zusehends Monumente mit Bezug zum Sklavenhandel in den Fokus. Auch in Belgien wurden Statuen von Leopold II. beschädigt. Der Luxemburger Historiker Régis Moes hat zur Schreckensherrschaft des belgischen Königs im Kongo geforscht, hier vor allem die Luxemburger Verwicklungen ausgeleuchtet und sie in seinem Buch „Cette colonie qui nous appartient un peu – La communauté luxembourgeoise au Congo belge 1883-1960“ verarbeitet.

Tageblatt: In Belgien wurden im Zuge der „Black Lives Matter“-Proteste Statuen von Leopold II. zum Angriffsziel. Mehrere Petitionen fordern ihren Abbau. Wieso richtet sich der Zorn vieler Belgier gerade gegen diesen König?

Régis Moes: Leopold II. ist auch deswegen diese spezielle Figur, weil der Kongo sich erst einmal in seinem Privatbesitz befand. Damit war er nicht nur König von Belgien, sondern, als Privatmann, Herrscher über den „Etat indépendant du Congo“, den Kongofreistaat. In den 1880ern finanzierte der König Abenteurer wie Henry Morton Stanley – um Afrika zu erforschen, ja, aber auch, um dort ein Herrschaftsgebiet zu errichten. Bei diesen Expeditionen wurden Verträge mit lokalen Königen geschlossen, die natürlich nicht wussten, worauf sie sich einließen. 1885 wurde dieser Kongofreistaat von den anderen europäischen Staaten anerkannt. Und kaum irgendwo anders war der Kolonialismus so brutal wie im Kongofreistaat.

Die Europäer haben als Kolonialmächte überall schrecklichste Gräuel begangen, wieso sticht die Herrschaft von Leopold II. sogar in diesem Vergleich hervor?

Um 1890 herum stieg in Europa die Nachfrage nach Kautschuk, vor allem wegen der Erfindung des Reifens, erst für Fahrräder, dann für Automobile. Und Kautschuk wächst in den Wäldern Kongos. Das wurde wie eine Steuer gehandhabt. Die Menschen mussten Kautschuk herbeibringen. Wer dem nicht beikam, wurde erschossen. Oder die Familie wurde als Geisel genommen. Und ermordet, falls nicht genug Kautschuk gesammelt wurde. Aus dem Kongo kennen wir die Bilder der abgehackten Hände. Soldaten mussten ihren Offizieren die Hände der von ihnen Ermordeten zum Beleg vorzeigen, wieso sie eine Kugel verschossen hatten. Opferzahlen zu nennen, ist schwierig, da niemand sagen kann, wie viele Menschen davor dort gelebt haben. Wir sprechen hier aber von Hunderttausenden von Opfern. Aber fest steht: Der Kolonialstil unter Leopold II. war extrem heftig. So heftig, dass sich eine der großen Menschenrechtskampagnen dagegen bildete. Schließlich wurde eine Untersuchungskommission entsandt, die alle Vorwürfe bestätigte. Leopold musste daraufhin „seinen“ Kongo 1908 an den belgischen Staat abtreten. Das Kolonialsystem blieb bestehen, funktionierte weiter mit Gewalt, aber mit weniger als zuvor.

Klingt nach einer eindeutigen Beweislage. Trotzdem reagieren viele Belgier entrüstet über die Beschmierungen und Beschädigungen der Denkmäler.

Leopold II. ist auch der Erbauerkönig, der „Roi bâtisseur“. Unter seiner Regentschaft floriert Belgien und zählt Ende des 19. Jahrhunderts zu den größten Industrienationen der Welt. Belgisches Kapital fließt rund um den Globus in Investitionen. In diesen Jahren wird Brüssel vom belgischen Staat nahezu neu aufgebaut. Leopold II. selber errichtet in der Zeit riesige Schlösser wie Laeken, kleinere Schlösser für seine Familie quer durch Belgien, finanziert aber auch Bauten in Brüssel. Der Königliche Palast, der Justizpalast, diese Zeit ist das. Der belgische Staat profitiert so indirekt vom Kolonialismus von Leopold II. – und wie zu der Zeit üblich wird Leopold II. bereits zu Lebzeiten und auch danach mit jenen Skulpturen gehuldigt, die jetzt so in der Kritik stehen.

Sie haben selber zu den Luxemburger Verstrickungen in den belgischen Kolonialismus geforscht. Hat auch der luxemburgische Staat profitiert?

Einzelne Luxemburger haben im Kongo Karriere gemacht, dabei viel Geld verdient und sich auch an Gewalttaten beteiligt. Der Luxemburger Staat aber war nicht direkt beteiligt. Es gibt ein Gebäude, das mit dem Kongo im Zusammenhang steht, aber jenem der 1950er Jahre und nicht jenem unter Leopold II. Bei der Hochzeit 1953 von Prinz Jean mit Josephine-Charlotte, die ja die Tochter des belgischen Königs war, gab es ein Geschenk aus dem Kongo, wo in den Dörfern Geld gesammelt worden war. Diese Summe war Teil des Startkapitals der „Fondation du Grand-Duc Jean et de la Grande-Duchesse Joséphine Charlotte“, woraus wiederum die Kinderklinik finanziert wurde.

Kinshasa im Juni 2020: Statuen von Sklaven aus der Kolonialzeit (r.) sind neben einer Statue von König Leopold II. von Belgien auf einem Pferd reitend (l.) im Institut der Nationalmuseen des Kongo zu sehen
Kinshasa im Juni 2020: Statuen von Sklaven aus der Kolonialzeit (r.) sind neben einer Statue von König Leopold II. von Belgien auf einem Pferd reitend (l.) im Institut der Nationalmuseen des Kongo zu sehen Foto: dpa/John Bompengo

Gibt es für den Luxemburger Kolonialismus keine baulichen Erinnerungen?

Die Cito-Schule in Käerjeng ist nicht nach dem Bildhauer Claus Cito benannt, sondern nach dessen Onkel Nicolas Cito, der im Kongo Eisenbahntrassen durch den Dschungel legen ließ. Später wurde Cito auch Konsul, war hoch angesehen. In den 1930er Jahren spendierte er einen Teil der Renovierungskosten für die Schule, die auch heute noch seinen Namen trägt. Unweit davon steht ein kleiner Brunnen zu Ehren Citos mit seinem Bildnis und dem in Stein gehauenen Dank an den „Kolonial-Pionéier“. Das ist ein Erinnerungsort. Gegenüber der Person Cito gab es in Luxemburg außerhalb wissenschaftlicher Kreise nie eine Auseinandersetzung. Auch nicht gegenüber den anderen, die im brutalen Kolonialsystem Leopold II. Karriere gemacht haben. Obwohl Historiker davon ausgehen, dass pro 50 Meter Bahntrasse ein toter afrikanischer oder chinesischer Arbeiter gezählt werden konnte – auch unter Aufsicht von Luxemburger Ingenieuren.

Wird Luxemburgs Kolonialgeschichte in den Schulen thematisiert?

Wer in Belgien oder Luxemburg in den 1950ern, 60ern oder 70ern zur Schule ging, hat die brutale Seite der kolonialen Rolle von Leopold II. nicht kennengelernt. Das war, auch hierzulande, eine Geschichtsverfälschung. In Luxemburg füllte Leopold II. in den 1990ern einmal kurzzeitig eine halbe Seite der Geschichtsbücher des „Technique“, als die einmal hierzulande und nicht wie üblich im Ausland verfasst worden waren. Aber in Luxemburg gab es nie eine öffentliche Debatte über die Kolonialzeit, anders als in Frankreich oder Belgien etwa, wo jetzt nicht zum ersten Mal über das Thema gestritten wird. Das hat seine Gründe. In Luxemburg gab es zum einen keine Überschneidung des Endes der Kolonialzeit mit einer verstärkten Einwanderung aus Afrika. Zum anderen wurden die 500 Luxemburger, als sich der Kongo 1960 unabhängig erklärte und sie zurückkommen mussten, schnell hier integriert, inklusive neuer Arbeit und damit neuem Leben. Demnach gab es auch von der Seite keine Unruhe.

Prinz Felix hat Baumwolle in Mosambik angebaut und verkauft – und das Land war zu der Zeit bekannt dafür, dass Gewalt gegen Afrikaner an der Tagesordnung stand

Sie sind Historiker und arbeiten in einem Museum. Beim Anblick der jetzigen Proteste und Angriffe gegen Denkmäler – was geht da in Ihnen vor?

Werden sie zerstört, blutet mir das Herz. Denkmäler aller Art sind Teil der Geschichte und zeigen uns, wie die Welt damals war, wie sie gesehen wurde und wie wir in der Vergangenheit vielleicht falsch auf eine Zeit geschaut haben. Es ist aber nicht am Historiker zu sagen, ob diese heute noch in den öffentlichen Raum gehören: Dies ist eine gesellschaftliche Debatte. Wenn Denkmäler aber nicht mehr dort erwünscht sind, sollten sie in das Lager eines Museums oder seine Ausstellung, wo der Kontext erklärt wird. Auch damit die Kolonialzeit, mit all ihren Aspekten, nicht vergessen wird. Wo erklärt wird, wieso diese Denkmäler lange auf einem zentralen Platz dieser oder jener Stadt standen und dann wieder von dort verschwanden.

Luxemburger machten aber nicht nur Geschäfte im Kongo, sondern auch in der Armee von Leopold II., gab es hierüber eine Auseinandersetzung, gar eine Distanzierung?

Im 19. Jahrhundert heuerten viele Luxemburger in fremden Armeen an. Das galt auch für die „Force publique“, also die Privatarmee von Leopold II. im Kongo. Hier sticht die persönliche Geschichte von Nicolas Grang hervor, dem ersten Luxemburger, der nachweislich im Kongo war und dort auch gestorben und in Léopoldville, dem heutigen Kinshasa, begraben wurde. Grang, ein junger Mann aus Buschrodt in der Gemeinde Wahl, wurde als Haudegen in Kongo geschickt. In Briefen an einen ehemaligen Lehrer erzählt er freimütig von den Gräueln, die er dort begangen hat, von Geiselnahmen und wenig zimperlichem Umgang mit den Afrikanern. Einmal berichtete er, die Afrikaner hätten ihm geschworen, aus seiner Haut eine Trommel zu bauen. Diese Briefe waren bekannt unter den Luxemburger Kolonialisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden sie aber nicht mehr zitiert. Da zeigt sich der Wunsch nach einem Vergessen dieser Zeit. Grang wurde quasi 50 Jahre als Luxemburger Held gefeiert, auch danach bleibt sein Name unter den Kolonialisten geläufig, es wird aber nur mehr die halbe Geschichte erzählt. Wir hatten dieselbe Haltung, diese Gewalt zu verschleiern, wie das in anderen Ländern der Fall war. Es war auch lange Zeit völlig üblich, bei offiziellen Besuchen in Kongo einen Kranz an Grangs Grab niederzulegen, auch Staatsminister Pierre Dupong und Außenminister Joseph Bech taten dies noch 1953. Bis auf die Kommunisten war in Luxemburg vor 1960 keine Partei antikolonialistisch eingestellt.

Wie stand die großherzogliche Familie zum Luxemburger Kolonialismus?

Die großherzogliche Familie hat mit dem Kongo relativ wenig zu tun. Allerdings waren sie, genau wie die Regierungen, Schirmherren des „Cercle colonial“ und haben diesen so zumindest moralisch unterstützt. Während des Zweiten Weltkrieges sammelten Luxemburger in der ganzen Welt Geld, insbesondere in den USA und in Brasilien, das Prinz Jean zu diesem Zweck auch besuchte. Die Luxemburger in Belgisch-Kongo hofften ebenfalls auf einen Besuch und sammelten fleißig Geld, vor allem während der Ardennenoffensive – trotzdem warteten sie vergeblich auf Besuch der großherzoglichen Familie. Allerdings hatte Prinz Felix, der Mann von Grande-Duchesse Charlotte, eine Baumwollkonzession in Mosambik. Die Gesellschaft hieß, je nach Quelle, Société grand-ducale coloniale oder cottonière, Grandducol in Kurzform, und wurde 1942 oder 1943 von den Portugiesen nationalisiert. In der Zwischenkriegszeit also hatte der Luxemburger Hof über Prinz Felix ein Baumwollunternehmen in Mosambik, das von Luxemburger Ingenieuren vor Ort geführt wurde und ein Unternehmen nach Luxemburger Recht war. Im Verwaltungsrat des Unternehmens finden sich Mitglieder der großherzoglichen Familie. Die Quellenlage ist zwar dünn, aber wir wissen, dass Prinz Felix Baumwolle in Mosambik angebaut und verkauft hat – und dass das Land zu der Zeit nicht bekannt dafür war, eine progressive Kolonie zu sein, das war ebenfalls eine jener, wo die Gewalt gegen Afrikaner an der Tagesordnung stand.

Auf den Spuren der Luxemburger im Kongo: Régis Moes ist Autor des Buches „Cette colonie qui nous appartient un peu – La communauté luxembourgeoise au Congo belge 1883-1960“. 
Auf den Spuren der Luxemburger im Kongo: Régis Moes ist Autor des Buches „Cette colonie qui nous appartient un peu – La communauté luxembourgeoise au Congo belge 1883-1960“.  Foto: © MNHA/Eric Chenal