Forum„Nicht nur zur Weihnachtszeit“

Forum / „Nicht nur zur Weihnachtszeit“
 Foto: dpa/Fabian Sommer

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Die Welt ist voller Wartesituationen. Dem Phänomen wird seine Schwere genommen, wenn es in Geduld ertragen werden kann. Was sofort verfügbar ist, erfährt im Vorfeld auch wenig Wertschätzung. Wenn wir den Kirchenlehrer Augustinus befragen, erhalten wir als Antwort: Warten ist die Gegenwart der Zukunft. Die Christenheit übt sich darin seit zwei Jahrtausenden. Der Name der Zeit, in der wir uns gerade befinden, steht für das geduldige Annähern: Advent! In meiner Kindheit gab es im Fernsehen am Mittag vor Heiligabend die Sendung „Wir warten auf das Christkind“. Und vor der Bescherung musste ein Klingeln ertönen. Das Geheimnisvolle steigerte die Neugierde. Ohne diese besonderen Momente fehlte die Spannung auf das, was da kommen mag.

Im elterlichen Geschäft standen die Kunden an den Tagen vor Weihnachten Schlange: für kleinere und/oder größere Dinge. Wenn es nicht so war, konnte es mit der wirtschaftlichen Situation erklärt werden. Meistens aber wollte man diese Verknappung nicht wirklich missen. Etwas Geduld an der Kasse gehört doch zum Gesamtbild. Heute werden wir durch die Demoskopie, die dem Namen nach ja als „Stimmungs-Spähtrupp“ unentwegt nach dem „Im Großen und Ganzen“ fragt, monatlich über den Gefühlshaushalt der Konsumenten informiert. Tief gesunken ist sie: die Konsumlaune. Bereits ein Aussetzen des Abwärtstrends wird als Erfolg gewertet. Rekorde werden auf niedrigem Niveau neu justiert. Aber auf bestimmte Themen kann man sich im Jahreskalender verlassen. Dazu zählt: Wie ist die Konsumstimmung vor Weihnachten? Lange durfte sich das Fest rühmen, in dieser Hinsicht konkurrenzlos zu sein. Seit einiger Zeit wird nun vor Ostern gerne ebenso gefragt, ob dieses Fest nicht auf dem Weg sei, ein kleines Weihnachten zu werden.

Die Kassen müssen klingeln

Viele reagieren daher nach wie vor verärgert, wenn das Fest und seine Vorlaufphase generell nur in den Rahmen „Angebot und Nachfrage“ und/oder „frühe Verfügbarkeit“ der typischen Produkte gefasst wird. Der Handel selbst wiederum weiß, dass sich die Verbraucher in ihrer Zeitdisziplin unterscheiden und neben den Early-Bird- auch viele Last-Minute-Kunden zu finden sind.

Ja, die Kassen müssen klingeln. Sie müssen immer klingeln. Es gibt nur wenige Momente, in denen diese Konsumwelt bereit für Bilanzierungen ist. Das Zwischenfazit, etwa nach einem ersten Adventswochenende, ist Teil eines umfassenden Zufriedenheits-Rankings, das die Laune der Gesellschaft und die Laune des Handels spiegelt. Am Heiligen Abend pausiert diese Fieberkurve, um für die nächsten Ausschläge bereit zu sein. Das Fest wirkt wie eine Ziellinie. Auf dem Weg dorthin melden sich reizvolle Angebote. Das Hochamt des Konsums bestimmt die Botschaften in den Zeitungen, Radiosendungen, im Fernsehen und in der nicht weniger aufdringlichen Welt der sozialen Medien.

Die Verärgerung über den frühen Nikolaus gehört in den Jahreskalender des Journalismus und der Gesellschaft. Obwohl die frühe Weihnachtseröffnung jahraus, jahrein die Kritik der Konsumenten auf sich zieht, wird stets auch auf die gewünschte Flexibilität des Handels hingewiesen und verteidigend hinzugefügt, dass all diese Produkte doch in behutsamer Weise in den Markt eingeführt werden. Nie wird also in dieser Gemengelage Weihnachten schon mal erledigt sein können. Es bleibt als Angebot „eingeschaltet“, obwohl die individuelle Nachfrage noch nicht einschalten möchte. Wem es um die Wahrung der Besonderheit des bevorstehenden Ereignisses geht, muss sich ständig darin üben, die emotionale Freude auf den traditionellen Tag und Ort zurückzustellen. Advent steht für Ankunft, aber auch zunehmend für einen verlängerten Weg.

Hoffnung auf mehr Innerlichkeit

Als der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll nach dem Zweiten Weltkrieg „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ schrieb, war das tägliche Spekulatiusknabbern eher Nebensache, die ständige Wiederholung adressierte in dieser Geschichte den Verzicht auf gesellschaftliche Veränderung. Heute würde ein solcher Titel eher mit dem Vorwurf des Konsumismus in Verbindung gebracht werden. Der Sinn für das, was war, gerade ist und noch kommen mag, ist das herkömmliche Raster für das Zeit- und Wohlempfinden. Das gut gemeinte Argument „Rechtzeitig bestellen!“ hat natürlich auch etwas Fürsorgliches und möchte das Warten auf Weihnachten angenehmer machen. Umgekehrt wird beispielsweise in Buchläden das Lesen schöner Weihnachtsgeschichten als vergnügliche Wartestrategie empfohlen. Nicht käuflich bleibt die Hoffnung auf mehr Innerlichkeit, das Fest wird mit oder ohne Gottesglauben ein Fluchtpunkt für alles, das dem alltäglichen Leben abhandengekommen ist. So oder ähnlich sieht offenbar die moderne „Tannenbaumtherapie“ aus, die in Bölls Erzählung die Leiden der Tante minderte. Dabei heißt es doch seit geraumer Zeit in allen Landen, dass ein tiefes Bedürfnis nach Erzählungen bestünde. Auf diese Weise ist auch die Kritik an Weihnachten zu einem eigenen Markt geworden.

Auch Weihnachtsbotschaften kommen nun vermehrt aus der Mitte der Verkaufswelt. Dosierte Provokationen zielen auf den Sinn des Festes, man signalisiert Beteiligung und erlaubt sich erzieherisch gemeinte Grenzüberschreitungen. Immer kreist der Erfindungsreichtum um Signale, die auf Illusionen bauen und davon leben, dass sie nicht radikal infrage gestellt werden. So ist es auch mit dem Weihnachtsmann, der im Zweifel für irgendeine Tradition steht, aber eben nicht beliebig austauschbar ist. Ansonsten wäre die Aufregung über seine jährlich zu früh beginnende Rückkehr in die Regale nicht wirklich zu verstehen.

Michael Jäckel ist Professor für Soziologie und war von 2011 bis 2023 Präsident der Universität Trier
Michael Jäckel ist Professor für Soziologie und war von 2011 bis 2023 Präsident der Universität Trier Foto: Editpress/Julien Garroy

Diese Resonanz liefert uns erneut auch die Demoskopie. Sie registriert das Besinnliche und den Rummel, als müsse Letzterer sein, damit das erste besser erlebt werden kann. Wenn es gelingt, dann ist Weihnachten immer auch eine Zeit der Erinnerung. Das kann durch frühe Aktivierung der Festtage nicht wirklich vorgezogen werden. Ohne diese emotionalen Elemente würde dem Rahmen wenig Bedeutung beigemessen. Der Kirchenbesuch, das Festessen, die Überraschungen, das Gesellige – über allem weht ein besonderer Geist, der nicht zu früh aus der Flasche will. Im Märchen durfte, wenn dieses Bild bemüht wurde, immer nur ein Wunsch erfüllt werden.

„Auf der Suche nach Weihnachten bleib’ ich“ ist also mehr als eine musikalische Botschaft. Die Melodie sorgt stets für Impressionen und gibt selbst den Zweifelnden Halt. Das Fest wird zum Fluchtpunkt vieler Fragen, die zumindest einmal im Jahr gestellt werden und auch danach bleiben, allenfalls vorübergehend leichter zu ertragen sind. Wer es als das Familienfest betrachtet, denkt alle glücklichen und unglücklichen, alle vollständigen und unvollständigen, alle neben dem klassischen Familienbild existierenden Lebensformen gleich mit. Das Schenken als weiteres gemeinsames Element passt sich ohnehin ständig den Verhältnissen an – weil es bindet und verbindet.

fraulein smilla
24. Dezember 2023 - 17.46

Die Story von Heinrich Böll ,Nicht nur zur Weihnachtszeit ist Anfang der Siebziger Jahre mit u a René Deltgen verfilmt worden . Wirklich sehenswert ,und auf You Tube noch verfuegbar .