ForumDie wirtschaftlichen Folgen des Gaza-Krieges

Forum / Die wirtschaftlichen Folgen des Gaza-Krieges
Palästinenser stehen Schlange, um Wasser zu bekommen, während der Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas weitergeht Foto: dpa/Abed Rahim Khatib

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Das barbarische Massaker der Hamas an mindestens 1.400 Israelis am 7. Oktober und die anschließende israelische Militäraktion im Gazastreifen zur Auslöschung der Gruppe haben vier geopolitische Szenarien im Hinblick auf die Weltwirtschaft und die Märkte aufkommen lassen. Wie es bei derartigen Schocks häufig der Fall ist, könnte sich Optimismus als unangebracht erweisen.

Im ersten Szenario bleibt der Krieg weitgehend auf den Gazastreifen beschränkt, ohne dass es zu einer regionalen Eskalation kommt, die über kleinere Scharmützel mit iranischen Stellvertretern in den Nachbarländern Israels hinausgeht; tatsächlich ziehen es die meisten Akteure inzwischen vor, eine regionale Eskalation zu vermeiden. Die Militäraktion der israelischen Streitkräfte in Gaza schwächt die Hamas erheblich und hinterlässt eine hohe Zahl an zivilen Opfern, und der instabile geopolitische Status quo bleibt bestehen. Nachdem er jegliche Unterstützung verloren hat, scheidet der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu aus dem Amt, doch die israelische Öffentlichkeit lehnt eine Zwei-Staaten-Lösung weiter entschieden ab. Dementsprechend schwelt die Palästinenserfrage weiter; die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu Saudi-Arabien ist eingefroren; der Iran bleibt eine destabilisierende Kraft in der Region, und die Vereinigten Staaten machen sich weiterhin Sorgen um das nächste Aufflammen.

Die Auswirkungen dieses Szenarios auf die Wirtschaft und den Markt sind gering. Der derzeitige leichte Anstieg der Ölpreise würde sich abschwächen, da es keinen Schock für die regionale Produktion und die Exporte aus der Golfregion gäbe. Die USA könnten zwar versuchen, iranische Erdölexporte zu unterbinden, um das Land für seine destabilisierende Rolle in der Region zu bestrafen, doch es ist unwahrscheinlich, dass sie eine solche eskalatorische Maßnahme ergreifen. Die iranische Wirtschaft würde unter den bestehenden Sanktionen weiter stagnieren, was die Abhängigkeit des Landes von engen Beziehungen zu China und Russland noch verstärken würde.

Rezessionen als mögliche Folge

Israel würde unterdessen eine schwere, aber zu bewältigende Rezession erleiden, und Europa würde einige negative Auswirkungen erfahren, da die leicht gestiegenen Ölpreise und kriegsbedingte Ungewissheiten das Vertrauen der Unternehmen und Haushalte beeinträchtigen. Durch den Rückgang von Produktion, Ausgaben und Beschäftigung könnte dieses Szenario die derzeit stagnierenden europäischen Volkswirtschaften in leichte Rezessionen abrutschen lassen.

Im zweiten Szenario folgt auf den Krieg in Gaza eine regionale Normalisierung und Frieden. Der israelische Feldzug gegen die Hamas ist erfolgreich, ohne dass es zu vielen weiteren zivilen Opfern kommt, und gemäßigtere Kräfte – wie die Palästinensische Autonomiebehörde oder eine arabische multinationale Koalition – übernehmen die Verwaltung der Enklave. Netanjahu tritt zurück (nachdem er die Unterstützung fast aller verloren hat) und eine neue gemäßigte Mitte-rechts- oder Mitte-links-Regierung konzentriert sich auf die Lösung der Palästina-Frage und die Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien.

Anders als Netanjahu würde diese neue israelische Regierung nicht offen für einen Regimewechsel im Iran eintreten. Sie könnte die Islamische Republik dazu bringen, eine israelisch-saudische Normalisierung stillschweigend zu akzeptieren und im Gegenzug neue Gespräche über ein Atomabkommen führen, das eine Lockerung der Sanktionen beinhaltet. Dies würde es dem Iran ermöglichen, sich auf dringend benötigte Wirtschaftsreformen im eigenen Land zu konzentrieren. Dieses Szenario hätte offenkundig sehr positive wirtschaftliche Auswirkungen, sowohl in der Region als auch weltweit.

Im dritten Szenario eskaliert die Situation zu einem regionalen Konflikt, an dem auch die Hisbollah im Libanon und möglicherweise der Iran beteiligt sind. Dies könnte auf mehrere Arten geschehen. Der Iran, der die Folgen einer Ausschaltung der Hamas fürchtet, lässt die Hisbollah gegen Israel losschlagen, um es vom Militäreinsatz in Gaza abzulenken. Oder Israel beschließt, diesem Risiko durch einen größeren Präventivschlag gegen die Hisbollah zu begegnen. Und dann sind da noch all die anderen iranischen Stellvertreter in Syrien, Irak und Jemen. Jeder von ihnen ist erpicht darauf, Israel und die US-Streitkräfte in der Region im Rahmen seiner eigenen destabilisierenden Agenda zu provozieren.

Ölkrise wie in den 1970ern?

Sollten Israel und die Hisbollah tatsächlich in einen ausgewachsenen Krieg verwickelt werden, würde Israel wohl auch iranische Nuklear- und andere Einrichtungen angreifen, vermutlich mit logistischer Unterstützung der USA. Am Ende würde Iran, der massive Ressourcen für die Bewaffnung und Ausbildung sowohl der Hamas als auch der Hisbollah aufgewendet hat, den umfassenderen regionalen Aufruhr wahrscheinlich dazu nutzen, die Schwelle zur Atommacht endgültig zu überschreiten.

Falls Israel – und möglicherweise die USA – den Iran bombardieren, würden die Produktion und die Energieexporte aus dem Golf vermutlich für Monate zurückgehen. Dies würde eine Ölkrise wie in den 1970er Jahren auslösen, gefolgt von einer weltweiten Stagflation (steigende Inflation und geringeres Wachstum), abstürzenden Aktienmärkten, schwankenden Anleiherenditen und einem Ansturm auf sichere Anlagen wie Gold. Die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen wären in China und Europa schwerwiegender als in den USA, die heute Nettoexporteur von Energie sind und die die unvorhergesehenen Gewinne der amerikanischen Energieerzeuger besteuern könnten, um Subventionen zu finanzieren, die die negativen Auswirkungen auf die Verbraucher (Haushalte und Unternehmen außerhalb des Energiesektors) begrenzen.

In diesem Szenario bleibt das iranische Regime an der Macht, weil sich viele Iranerinnen und Iraner angesichts eines israelisch-amerikanischen Angriffs hinter das Regime stellen würden – selbst seine Gegner. Alle Parteien in der Region werden radikalisiert und konfrontativer, sodass Frieden oder diplomatische Normalisierung ein Wunschtraum bleiben. Dieses Szenario könnte sogar Bidens Präsidentschaft und seine Chancen auf eine Wiederwahl zunichtemachen.

Im vierten Szenario weitet sich der Konflikt ebenfalls auf die Region aus, es kommt jedoch zu einem Regimewechsel im Iran. Falls Israel und die USA den Iran tatsächlich angreifen sollten, werden sie nicht nur Nuklearanlagen, sondern auch militärische und Dual-Use-Infrastrukturen sowie die Führung des Regimes ins Visier nehmen. Anstatt das Regime zu unterstützen, könnte sich die iranische Bevölkerung – die seit über einem Jahr gegen die Verstöße der Sittenpolizei protestiert – hinter gemäßigte Kräfte wie den ehemaligen Präsidenten Hassan Rouhani stellen.

Voraussetzungen für mehr Stabilität

Der Sturz der Islamischen Republik würde es dem Iran ermöglichen, sich wieder in die internationale Gemeinschaft einzugliedern. Es gäbe zwar immer noch eine schwere globale Rezession kombiniert mit hoher Inflation und wirtschaftlicher Stagnation, aber die Voraussetzungen für mehr Stabilität und stärkeres Wachstum im Nahen Osten wären geschaffen.

Wie wahrscheinlich ist jedes dieser Szenarien? Ich würde eine Wahrscheinlichkeit von 50% für die Beibehaltung des Status quo, 15% für den Beginn von Frieden, Stabilität und Fortschritt nach dem Krieg, 30% für einen regionalen Flächenbrand und nur 5% für einen regionalen Flächenbrand mit einem glücklichen Ausgang ansetzen.

Die gute Nachricht ist also, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Konflikt nicht zum Flächenbrand in der gesamten Region ausweitet mit 65% relativ hoch ist, was bedeutet, dass die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen gering oder begrenzt wären. Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass die Märkte einem regionalen Konflikt mit schwerwiegenden stagflationären Auswirkungen auf der ganzen Welt derzeit allenfalls eine Wahrscheinlichkeit von 5% zuordnen, während eine angemessenere Zahl bei 35% liegt.

Eine solche Selbstgefälligkeit ist gefährlich, insbesondere wenn man bedenkt, dass die kombinierte Wahrscheinlichkeit eines global disruptiven Szenarios (eins, drei und vier) immer noch 85% beträgt. Das wahrscheinlichste Szenario könnte nur leichte kurzfristige Folgen für die Märkte und die Weltwirtschaft haben, aber es bedeutet, dass ein instabiler Status quo bestehen bleibt, der letztlich zu neuen Konflikten führen wird.

Im Moment sind die Märkte auf nahezu perfekte Bedingungen eingestellt und bevorzugen die mildesten Szenarien. Doch Märkte haben große geopolitische Schocks oft falsch eingeschätzt. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn es wieder geschieht.

* Nouriel Roubini, emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Stern School of Business der New York University, ist Chefökonom und Mitbegründer von Atlas Capital Team. Die Taschenbuchausgabe seines Buches „Megathreats: Ten Dangerous Trends That Imperil Our Future, and How to Survive Them“ (Little, Brown and Company, 2022) wurde diesen Monat veröffentlicht.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

Copyright: Project Syndicate, 2023, www.project-syndicate.org.