Freitag7. November 2025

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Eine scharfe Granate im Kopf

Eine scharfe Granate im Kopf

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Karla Flores wusste nicht, was sich in ihr Gesicht hineingebohrt hatte. Erst im Spital erfuhr sie, dass es eine Granate war – und dass sich die Ärzte aus Angst weigerten, sie zu behandeln.

Die fünffache Mutter Karla Flores trägt eine riesige Narbe auf der rechten Seite ihres Gesichts, in der Luftröhre hat sie ein Loch. Und doch muss sie sich glücklich schätzen: Vor sechs Wochen steckte noch eine Granate in ihrem Kopf, die jeden Moment explodieren konnte. Wie das Geschoß dorthin kam, erklärte Flores der spanischen Zeitung „El Mundo“: Am 6. August verkaufte sie wie immer Meeresfrüchte an ihrem kleinen Strassenstand im mexikanischen Culiacán, als es plötzlich einen heftigen Knall gab.

Sie drehte sich um und ihr Hut flog davon. Die 32-Jährige spürte einen gewaltigen Schlag im Gesicht. Sie stürzte zu Boden und sah, halb bewusstlos, das Blut über ihre Kleider fließen. Dann wurde alles schwarz. Flores erfuhr später, dass ein Mann anhielt und sie in sein Auto lud. Ihr „Schutzengel“ brachte sie ins Spital, meldete sie beim Notfall an – und verschwand. Bis heute weiß keiner, wer der Helfer in der Not war.

Ärzte mussten schnell handeln – nur wollte keiner

Im Spital wurde zunächst ein Röntgenbild gemacht. Die Diagnose war schnell klar: Eine Granate hatte sich in ihr Gesicht hineingebohrt. Die Angst, dass das Geschoß explodieren könnte, war groß. Die Notfallärzte liessen das Militär kommen. Man müsse zunächst feststellen, ob das Projektil hochgehen könnte. Wäre das der Fall, wären alle Menschen in einem Radius von zehn Metern in Gefahr gewesen.

Karla Flores wurde in einer ersten Massnahme in einen abgesonderten Bereich des Spitals gebracht. Langsam begann sie zu merken, dass sich viele Ärzte weigerten, sie zu operieren. Flores‘ Zustand verschlechterte sich rasant: Sie drohte an dem vielen Blut und Speichel zu ersticken.

Ein Anruf bei den Liebsten vor der Operation

Das Ärzteteam beriet sich und nach einigem Hin und Her erklärten sich zwei Anästhesisten, ein Krankenpfleger und Oberarzt Gaxiola Meza bereit, der Frau zu helfen. Zusammen mit zwei Sprengstoffexperten brachten sie sie in einen OP-Saal. Das Militär riet den Medizinern mit Spezialanzügen zu operieren, aber das hätte deren Arbeit unmöglich gemacht. Die Ärzte entschieden, die üblichen grünen Kittel zu tragen. Bevor die Türe des Saals zuging, telefonierten alle mit ihren Familien.

Vier Stunden dauerte der Eingriff. Flores‘ Gesicht musste ganz aufgeschnitten werden. Außerdem wurde eine Tracheotomie vorgenommen, damit die Patientin, die nur lokal betäubt worden war, atmen konnte. Die große Kunst bestand darin, das Projektil aus dem Kopf zu entfernen, ohne den Sprengkopf zu aktivieren. Schließlich konnte genug Raum geschaffen werden, um die Granate seitlich herauszuziehen.

Glücklich und dankbar

Wenige Tage später musste Flores erneut unters Messer. Ein plastischer Chirurg versuchte ihren Gaumen und Kiefer wieder herzustellen. Flores hatte ihre Zähne verloren und ihr Gesicht war vollkommen deformiert. Erst jetzt konnte sie das Spital verlassen. Sie benötigt zwar noch weitere Eingriffe, aber sie ist dankbar, ein „zweites Leben“ bekommen zu haben. Woher das Geschoß an jenem heissen Sommertag kam, weiß die mexikanische Polizei bis heute nicht.