Christen sind der festen Überzeugung, dass sie unbedingt der Gnade bedürfen, um Erlösung zu erlangen. Theo van Gogh hat uns ein Werk hinterlassen, das die möglichen Konsequenzen ihrer Verweigerung bis zum bitteren Ende durchdekliniert.
Theo van Gogh war nicht nur ein Ur-Ur-Neffe des ebenfalls nicht glücklich zu nennenden Vincent van Gogh, er war ein niederländischer Filmemacher, ein ruhmsüchtiger Provokateur und in Erinnerung wird er uns dennoch eher bleiben als ein Blutzeuge für die unumschränkte Freiheit von Wort, Schrift und Bild, der am Allerseelentag des Jahres 2004 in Amsterdam auf offener Straße Opfer eines so einfachen wie gnadenlosen salafistischen Mordanschlags wurde.
Der Fahrrad fahrende Mörder streckte sein Fahrrad fahrendes Opfer mit mehreren Schüssen nieder, feuerte dann noch mal aus nächster Nähe auf ihn und versuchte schlussendlich sogar noch, ihm den Kopf abzuschneiden. Eine traurige, in den wenigen Jahren seit van Goghs Tod schon fast alltäglich gewordene Gräueltat, auch wenn dieses Geistes Kinder im Moment noch einige Hundert Kilometer entferntere Gegenden mit ihrem Hass heimsuchen. Die Legende will, dass van Goghs letzten Worte gewesen wären: „Gnade, Gnade – wir können doch über alles reden.“
Psychopathische Spielchen
Sein jetzt von Myriam Muller auf die Theaterbühne sowie ins Französische übersetzter Film „Blind Date“ feierte am Dienstag im vollbesetzten Studio des Grand Théâtre Premiere und wirkt im Nachhinein wie eine überlebensgroße Bearbeitung des Themas Gnade und der möglichen Konsequenzen ihrer Verweigerung.
Sascha Ley und Jules Werner spielen die ehemaligen Eheleute Katia und Pom, die sich regelmäßig per Zeitungsannonce zu psychopathischen Spielchen verabreden: Blinder sucht Sehende oder Journalist sucht aggressive Interviewpartnerin sind dabei noch die harmloseren Konstellationen. Man merkt dem Stück doch seine schon fast zwanzigjährige Geschichte an: Man darf in Bars noch rauchen, Funktelefone scheinen noch nicht zu existieren und Menschen verabreden sich über analoge Inserate in Tageszeitungen. Ist das wirklich schon 20 Jahre her?
Nachdem der Kunstnebel auf der Bühne sich gelichtet hat und die ersten Blind Dates unterschiedlich spektakulär gescheitert sind, erfasst der Zuschauer langsam, sehr langsam, worum es sich hier dreht. Aber um ehrlich zu bleiben, wenn das tote Kind nicht manchmal aus dem Jenseits-Off wichtige Informationen preisgäbe, wüssten einige Zuschauer wohl heute noch nicht, was sich in dieser Bar eigentlich zuträgt. Man ahnt, dass „Blind Date“ wohl kaum zu Bühnenehren gelangt wäre, wenn sein Autor immer noch munter pöbelnd durch niederländische Talkshows tingeln würde.
Es wäre wohl zu wünschen, dass auch „Menschenhass und Reue“ des 1819 ermordeten August von Kotzebue in einigen Jahren von dieser so vorhersehbaren Gedenkmechanik profitieren könnte. Falls Hoffen hülfe – geredet und gehofft wird auf jeden Fall so einiges in „Blind Date“, allerdings meistens um den heißen Brei herum. Der ehemaligen Mutter verwehrt der ehemalige Vater ein neues Kind und um die Schuldfrage, wer am tödlichen Auto-Unfall der Tochter die entscheidendere Schuld trägt, wird erfolgreich und elegant im Autoscooter herumlaviert. Wer so unfähig ist, das Elementarste anzusprechen, dem ist wahrscheinlich zu Recht alle Barmherzigkeit versagt. Um es kurz zu machen, das Werk ist an und für sich ein sentimentales Rührstück, das wohl nicht einmal sein Hollywood-Remake durch Stanley Tucci im Jahre 2007 erlebt hätte, wäre der Autor wie wenige Jahre vor ihm Pim Fortuyn von einem fundamentalistischen Veganer ermordet worden.
Dekor- und Detail-Inspiration
Die Inszenierung von Myriam Müller verdankt denn auch der aufwändigeren Tucci-Version mehr Dekor- und Detail-Inspiration als dem Original, das 1996 in wenigen Tagen an der Hilton-Bar in Amsterdam produziert wurde. Die Schauspieler sind der wahre Lichtblick in all den opulenten Text-Nebelschwaden, die die Inszenierung durchwabern.
Jules Werner ist erschreckend als großmäuliges Arschloch, der eine mitleiderregende Sascha Ley mit dem Mikrofonkabel züchtigt; Sascha Ley ist herrlich, wenn sie ihre Revanche nimmt und einem wimmernden Werner ein Bier nach dem anderen ins Gesicht wirft. Aber auch Sébastien Schmit, der den lachenden (und manchmal weinenden) Dritten hinter der Bar darstellt, begeistert durchwegs. Für einige wenige Augenblicke gelingt es den Protagonisten sogar, wohlwollende, freiwillige Zuneigung, also Gnade laut Wörterbuch-Definition, zu zeigen. Leider nie auch nur annähernd genug, um gegenseitige Erlösung zu finden. Da helfen dann wohl nur ein biblischer Zornausbruch und ein Colt.
De Maart

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