Mit dem Surfbrett nach Gaza: die Reportage

Mit dem Surfbrett nach Gaza: die Reportage
(Dhiraj Sabharwal )

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Sonnenschein, eine sanfte Brise und eine idyllische Küste: man könnte auf der Hafenterrasse das Elend des Gazastreifens vergessen – und vom Griff nach dem Surfbrett träumen.

Es klingt absurd, fast anmaßend, in einer von extremer Armut und Gewalt geplagten Region ans Surfen zu denken. Gaza wird stets mit seinen Problemen assoziiert und als Terrorhochburg abgestempelt. Dabei gilt der „Gaza Strip“ unter Surfern als Geheimtipp im Mittelmeerraum.

Eine kurze Fahrt entlang der Küste wirft tatsächlich entgegen allen Erwartungen ein positiveres Licht auf das Gefängnis mit Meeresblick: Das Tourismuspotenzial der Strände ist enorm … wären da nicht die militärische Besatzung, die wirtschaftliche Erdrosselung und die politische Repression durch Israel.

Todesstoß

Der frisch gebrühte leicht nach Kardamom schmeckende Kaffee wird auf der Terrasse des Roots Hotel serviert. Loungige Musik schallt aus den Lautsprechern. Der Blick in die Unterlagen verdeutlicht, weshalb der Gazastreifen weder für Gazas Jugend geschweige denn für ausländische Touristen demnächst zur Surfhochburg wird.

Der Tourismus ist nicht-existent. Seit 2005 wurden mehr als 15.000 Raketen von Gaza auf seine Unterdrücker abgefeuert. Das Resultat waren drei blutige Konflikte mit fatalen Folgen: Nach den Kriegen in den Jahren 2009 und 2012 versetzte Israels brutale Militäroffensive 2014 Gaza den wirtschaftlichen Todesstoß. Mit Hilfe des Iran und Katar konnte die in Gaza regierende Hamas ein teilweise kriminelles Tunnelnetzwerk aufbauen. Für die Israelis stellten die mittlerweile zerstörten unterirdischen Schächte exklusiv eine Gefahrenquelle dar.

Güter

Die radikalislamische Hamas nutzte sie zwar für Angriffe auf Israel und zur Erleichterung ihrer Terrorvorhaben. Allerdings wird bei dieser Erzählweise ausgeblendet, dass die seit 2007 bestehende Blockade des Gazastreifens die Palästinenser in ihrem Freiluftgefängnis zwangsläufig radikalisiert hat. Radikale griffen auf die Tunnel zurück, um sich einerseits mit Waffen im Kampf gegen Israels Besatzungspolitik auszurüsten.

Normale Menschen nutzten sie aber andererseits auch zum Transport überlebenswichtiger Güter. Mit der Zerstörung der Tunnel verkümmerte Gazas Wirtschaft noch drastischer: 43 Prozent der 1,8 Millionen Einwohner sind arbeitslos. Bei den Jugendlichen liegt die Arbeitslosenquote bei 60 Prozent. Alleine der Handwerkssektor ist mittlerweile um 60 Prozent geschrumpft. 1,1 Millionen Menschen sind Flüchtlinge in ihrem eigenen Land.

Schutt

Fernab vom Vorzeigestrand des Roots Hotel offenbart sich, weshalb Gazas Wirtschaft nicht ohne den Kontakt zur Außenwelt überleben kann: Die wiederholte Zerstörung einer Fabrik der Industriezone in Beit Hanoun spricht Bände. Sie wurde nicht einmal, sondern inzwischen zweimal bei Militärangriffen dem Erdboden gleichgemacht. Mit einem Bulldozer. Blech, Schutt und eingefallene Hallendächer wirken wie industrielle Leichen: von der einst effizienten Produktion sind nur noch Ruinen übrig geblieben.

Jeder Haufen Schutt erinnert an kleine ökonomische Särge. Durch die Zerstörung der Fabrik haben viele Familien ihren Arbeitsplatz verloren. 70 Prozent der Wohnfläche in Beit Hanoun wurde zudem im Krieg beschädigt.

Festung

Der Wiederaufbau ist trotz internationaler Hilfen kostspielig und fragwürdig. Blickt man sich um, wird klar wieso: Kein Stein steht in der gesamten Gegend mehr auf dem anderen. Investoren meiden mittlerweile die nahe am Grenzwall gelegene Gegend. Zu schnell und zu einfach kann die israelische Armee in Gaza eindringen und willkürlich Angriffe ausführen.

Sie muss lediglich ihre streng beschützte Festung, eine Sperranlage rund um den Gazastreifen, verlassen. Selbst diese Anlage und die über 200 Meter breite Sicherheitszone haben neben ihrem psychologischen auch einen wirtschaftlichen Impakt: Über 60 Quadratkilometer Grünfläche sind im Gazastreifen wegen der einseitig verhängten Sicherheitsmaßnahmen und -einrichtungen nicht mehr nutzbar.

Neid

Unterhält man sich mit Mitarbeitern der Firma in Beit Hanoun, bleibt ein gewisser Zwiespalt, weshalb die Armee der Besatzungsmacht gerade diese Gegend, abgesehen von ihrer geografischen Nähe zu Israel, im Visier hat. Aus Sicht der Israelis gibt es wie immer den Verdacht, die Fabrik würde auch zu terroristischen Zwecken genützt.

Für die Palästinenser sieht die Sachlage jedoch anders aus: „Es gibt nur einen Grund, weshalb ausgerechnet diese Fabrik immer wieder zerstört wird: die Qualität der Produkte ist Israel ein Dorn im Auge. Man will uns wirtschaftlich ruinieren“, so ein Mitarbeiter. Die Israelis befürchten wiederum, dass die industriellen Anlagen im Grenzgebiet unterstützende Funktion beim Bau weiterer Tunnels haben.

Checkpoints

Allerdings ist die Schlussfolgerung des Fabrikmitarbeiters überzeugend: „Wir können nichts mehr aus Gaza exportieren, unsere Industrie ist am Boden. Die Israelis haben ihr Ziel erreicht.“ Die Vereinten Nationen teilen diese Einschätzung. Der Leiter der UNOCHA-Mission in Gaza meint bei einem Treffen: „Falls sich nichts ändert, wird der Gazastreifen bis 2020 unbewohnbar sein.“

Eigentlich muss man nicht so lange warten, damit dieser Zustand Realität wird. Trotz der internationalen Hilfsgelder, die Gaza zugutekommen, herrscht in vielen Gegenden bittere Armut. Kinder werden wortwörtlich im Dreck geboren. Der Begriff Dritte Welt verharmlost ihre Lebensumstände. Dies zeigt sich bei einem Übergang: Nach dem Verlassen des akribisch bewachten und durchmilitarisierten israelischen Checkpoints im israelischen Erez, beginnt der Abstieg in eine andere Welt. Hinter der Schandmauer gelangt man zunächst in das von Fatah kontrollierte Gebiet.

Tod

Die Armut und triste Realität sind bereits sichtbar. Der Schock folgt jedoch erst nach dem Betreten des Hamas-Gebiets in Gaza (der doppelte Checkpoint ist ein hausgemachtes Problem des palästinensischen Bruderkampfs). Kinder sitzen auf von Eseln gezogenen Karren. Ihre Hauptbeschäftigung ist das Durchforsten von Bauschutt – dem Einzigen, was vielen nach dem letzten Krieg geblieben ist, um sich eine Existenz aufzubauen.

Tote Tiere liegen an den Straßenrändern. Ein Pferd verwest inmitten von leeren Plastikflaschen und -tüten. Es wirkt mindestens genauso surreal wie der einige Meter entfernte Popcorn-Verkäufer, der, umgeben von kaum belebten Blechhütten und Müll, seinen wohlduftenden Mais-Karren in aller Ruhe vor sich her schiebt.

Nachts regnet es durch das undichte Dach, das eher einer Anhäufung zusammengenagelter Bretter ähnelt, ins Hausinnere. „Wir frieren am Tag und in der Nacht. Ich habe nicht einmal genug Wasser, um meine Kinder anständig zu waschen“, erzählt eine palästinensische Mutter. Ohne regelmäßiges Einkommen, ohne fließend Wasser und ohne eine halbwegs zuverlässige Stromversorgung harrt ihre siebenköpfige Familie aus.

Kriege, Terror, Flucht

Die Kinder spielen während unseres Gesprächs im Nebenzimmer. Sie lachen, albern herum. Trotz der depressiven Grundstimmung und der verkümmerten Einrichtung, die sie ihr Zuhause nennen. Das Schicksal der Familie ist typisch für diesen Konflikt. Er lebt von gegenseitigen Beschuldigungen. Während sich die radikalen Kräfte auf beiden Seiten bekämpfen, geraten Unschuldige immer in die Schusslinie: Kriege, Terror, Flucht … alles, was man mittlerweile von den syrischen Flüchtlingen kennt, müssen die Palästinenser bereits seit Jahrzehnten ertragen. Ein mit der Thematik vertrauter Insider meint bei einem Gespräch in Gaza, dass die Unterdrückung der Menschen Europa eigentlich in die Karten spielt: „Wenn Israel die Menschen in Gaza von ihrem Elend und ihrer Unterdrückung befreit, fliehen die Palästinenser direkt in Booten über das Mittelmeer zu uns.“

Es hat etwas Ironisches. Dort, wo eigentlich Tourismus boomen könnte, würde das Ende der Unterdrückung wahrscheinlich zu einem Massenexodus führen. Junge Menschen, die zum ersten Mal seit der Gaza-Blockade über die mittlerweile erlaubten 12 Seemeilen der Fischereizone fahren dürften, würden ihr Glück möglicherweise anderswo suchen. Sie würden nicht nach dem Surfbrett greifen und Gästen aus aller Welt die aufregendsten Wellen zeigen, sondern ähnlich wie ihre syrischen Brüder und Schwestern Schutz bei uns suchen: Wir, die wir sie über Jahrzehnte ignoriert haben und mit ihrem Leid allein gelassen haben.

Wir, die es den Vereinten Nationen, NGOs und europäischen Institutionen überlassen haben, das Leben der Palästinenser menschenwürdiger zu machen. Wir, die ihre potenziellen Handelspartner und Gäste in den feinen Strandhotels sein könnten.

Bis der Traum von „Gaza Beach“ Realität ist, werden statt Surfbrettern noch viele Raketenüberreste an die Küste des Freiluftgefängnisses geschwemmt.

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