Cinderella war schneller

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Zwischen Weihnachten und Neujahrstag herrschte in den Notaufnahmen der luxemburgischen Kliniken einmal mehr reger Andrang. Es gibt gleich mehrere Gründe hierfür. Anhand eines Beispiels wollen wir aufzeigen, wie groß doch in diesem Fall der Unterschied zwischen Theorie (alles im Lot) und Praxis (alles drunter und drüber) ist.

Die medizinische Versorgung in Luxemburg lasse (fast) keine Wünsche offen, so hört man von offizieller Seite, sprich Gesundheitsministerium oder Ärztekammer. Das stimmt – vielleicht – an vielen (aber längst nicht allen) Wochentagen im Jahr, doch sicher nicht an den Wochenenden und schon gar nicht in der (Urlaubs-)Zeit zwischen den Jahren, genauer gesagt zwischen Weihnachten und Neujahr.

Am Jahresende krank werden? Besser nicht

Wir stellen hier keinesfalls Allgemeinmediziner und Fachärzte an den Pranger, die sich um diese Jahreszeit Urlaub gönnen, wir stellen unser medizinisches Versorgungssystem im Allgemeinen infrage. Bereitschaftsdienst und „Maisons médicales“ hin oder her, „während dieser Jahresend-Urlaubszeit darf man in Luxemburg einfach nicht krank werden“, so die Stimme des Volkes.

Der Fall von Josiane P. (der richtige Name ist der Redaktion bekannt) bringt es auf den Punkt. Am zweiten Weihnachtstag klagt die Frau über starke Schmerzen in Höhe ihrer vor vier Jahren eingesetzten Gelenkprothese. Da die Schmerzen immer schlimmer werden und die Frau weiß, was eine Entzündung an ihrer Prothese ausrichten kann, versucht sie, ihren Orthopäden zu erreichen. Die Stimme vom Band gibt ihr zu verstehen, dass der Arzt in Urlaub ist. Eine Vertretung gibt es anscheinend nicht. Ein nächster Anruf in der diensttuenden Klinik bringt ebenso wenig: „Es ist kein Orthopäde im Haus.“

Es vergeht eine Nacht mit heftigen Schmerzen, am nächsten Morgen ruft Josiane P. erneut in der Klinik an. Es wird ihr geraten, in die „Urgences“ zu kommen. Und damit beginnt ihre hier aufgezeichnete Odyssee:

1.

Um 9.47 Uhr löst die Frau ein Ticket im Parkhaus der Klinik. Nach einem Zwischenstopp am Informationsschalter wird Josiane P. kurz nach 10 Uhr in der Notaufnahme erfasst. Nur zwei Minuten später steht sie vor einer überaus entgegenkommenden Krankenschwester, die die Schmerzen und die jeweilige Notsituation einstufen soll. „Triage“ heißt das! Frau P. erhält eine schmerzlindernde Pille und wird gebeten, im Wartesaal Platz zu nehmen. Es ist 10.22 Uhr. Auf dem Bildschirm an der Wand läuft das Märchen vom Aschenbrödel.

 

2.

Das Wartezimmer ist proppenvoll. Hier hört man jemanden über eine Erkältung klagen, dort spricht ein Herr über Ausschlag, in einer anderen Ecke glaubt eine Dame, ihr rechter Arm sei gebrochen (dies sollte sich im Laufe des Tages auch bewahrheiten). Bei einem anderen Herrn soll es sich um einen Sportunfall handeln; er sei beim Tennisspielen umgeknickt. Ein junger Mann meint, er sei nur hier, damit sein Handverband gewechselt werde. Eine ältere Dame sagt, sie fände ganz einfach keinen Hausarzt, und die „Maison médicale“ würde ja erst abends öffnen.

Auf dem Bildschirm an der Wand tanzt Cinderella mit ihrem Prinzen. Josiane P. sitzt noch immer auf ihrem Stuhl und wartet, wartet, wartet …

3.

Nach genau drei Stunden und 19 Minuten, während derer überhaupt nichts passiert (außer, dass der Prinz mit dem Glasschuh in der Hand sein Aschenputtel wiedergefunden hat), ruft im Korridor vor dem Wartezimmer jemand „Josiane P.“, oder so ähnlich. Die Zeiger der Uhr stehen auf 13.10 Uhr. Die Frau geht hinaus und humpelt in einen Behandlungsraum. Dort sitzt sie einem Allgemeinmediziner gegenüber, der – so scheint es jedenfalls – die Anwesenheit der Patientin minutenlang überhaupt nicht wahrnimmt. Plötzlich streift er die Frau mit einem kurzen Blick und gibt dann zu verstehen, dass ihr schmerzendes Gelenk geröntgt werden muss.

4.

Von der vorhandenen, vor drei Tagen durchgeführten kompletten Blutanalyse will der Allgemeinmediziner nichts wissen. Er wirft keinen einzigen Blick darauf, sondern entscheidet kurzerhand, dass eine neue Analyse vorgenommen werden müsse. Mit dem Satz „Sie müssen nun anderthalb Stunden auf die Resultate warten“ wird Josiane P. zum Röntgen geschickt. In der Zwischenzeit ist es genau 13.29 Uhr!

5.

Um 13.52 Uhr wird geröntgt. Dies dauert nur wenige Minuten, dann geht die Warterei für Josiane P. weiter. Es braucht eben Zeit, bis die Werte des Blutbildes vorliegen. Also zurück ins Wartezimmer, wo Cinderella längst glücklich vom Bildschirm verschwunden ist und nun eine Dauerwerbesendung läuft. Auf einem zweiten Bildschirm liest Josiane P. wohl zum 160. Mal an diesem Tag, welche Apotheken Bereitschaftsdienst haben. Es ist sehr wohl ein normaler Wochentag, an dem alle Apotheken geöffnet haben, doch da Josiane P. zu diesem Moment nicht weiß, ob sie – wenn überhaupt – vor oder erst nach 19 Uhr aus der Notaufnahme entlassen wird, notiert sie für alle Fälle die für sie infrage kommenden Apotheken.

6.

Die Zeiger stehen auf 14.35 Uhr. „Josiane P.“, ruft eine Stimme aus dem Korridor. Der Allgemeinarzt meint, die Resultate der Blutanalyse (die er der Frau jedoch nicht mitteilte) würden ihn dazu veranlassen, einen Facharzt hinzuzuziehen. Es könne nämlich sein, dass Josiane P. noch am selben Tag operiert werden müsse, sollte sich der Verdacht erhärten, dass sich eine durch eine Erkältung hervorgerufene Entzündung auf der Prothese festgesetzt hat. Aus der morgens allem Anschein nach als „Patientin mit banalen Gelenkschmerzen“ eingestuften Frau war von einem Moment zum anderen ein „Notfallpatient“ geworden. Seit der Aufnahme sind genau vier Stunden und 19 Minuten vergangen.

7.

Josiane P. wird gebeten, sich in die „Polyklinik“ zu begeben. Um 14.50 Uhr nimmt die Frau im nächsten Wartezimmer Platz. Sie wühlt aus Langeweile in ihrer Handtasche herum und findet das Parkticket von morgens. Fast fünf Stunden sind vergangen, seitdem sie ihn gelöst hat! Fünf Stunden … und sie ist, was ihre Schmerzen anbelangt, noch immer so schlau wie vorher.

Der überaus freundliche Facharzt erklärt der Frau in allen Einzelheiten, was passieren könnte, sollte sich der Verdacht auf eine Entzündung an der Prothese erhärten. Das Gelenk wird punktiert. Im Labor wird eine Kultur angelegt. Es werde wohl 48 Stunden dauern, bis die Resultate vorliegen. Bis dahin soll die Frau Antibiotika und dazu schmerzlindernde und entzündungshemmende Mittel einnehmen.

Es ist 16.10 Uhr. Nach sechs Stunden und 23 Minuten verlässt die Frau die Klinik. Über den hohen zweistelligen Betrag fürs Parken sieht Josiane P. hinweg, denn sie hat nur einen Gedanken: schnell in die Apotheke und dann ebenso schnell nach Hause.

Auf ihrem Weg zum Auto begegnet sie dem jungen Mann mit dem Handverband. „Et muss ee sech geschwënn e ganzen Dag Congé huelen, wann een e Verband gewiesselt kritt“, ruft dieser, und zieht kopfschüttelnd von dannen…

DanV
2. Januar 2018 - 14.49

Das ist doch die Regel und nicht die Feiertagsausnahme. Den Fehler, den alle bei der Theorie machen, ist, dass sie sich nur Statistiken anschauen. Und Statistiken bestehen aus zusammengewürfelten Fakten. Mit Statistiken kann man alles so nivellieren, wie es garade passt. Man sollte sich stattdessen ansehen, wie oft die Patienten erst nach Stunden in den Behandlungsraum geholt werden, wie oft sich dann herausstellt, dass weiterführende Untersuchungen nötig sind, wie oft der falsche Arzt hinzugezogen wird und wie oft die Patienten mit provisorischer, Falsch- oder Teil-Lösung des Problems nach Hause geschickt werden. Mir sind Fälle wie Paracetamol gegen nicht diagnostuierte Migräne und Abführmittel gegen Muskelzerrung im unteren Rückenbereich, Cortison gegen am Freitag aufgetauchte nosokomiale nicht-diagnositizeirte Infektion (eine Kultur konnte erst am Montag angelegt werden), nicht diagnostizierte Lungenentzündung und Ähnliches begegnet.